nd-aktuell.de / 01.02.2020 / Kultur / Seite 12

Unschuld ist langweilig und lügt

Filmregisseurin Annekatrin Hendel über Verlustgefühle, Ölquellen im Garten und Menschen, die nicht funktionieren wollen

Hans-Dieter Schütt

Annekatrin Hendel, worüber wundern Sie sich?

Manchmal wundere ich mich, dass mein filmischer Blick auf die Welt andere Menschen interessiert. Wer bin ich denn, das mit jedem neuen Film erneut zu hoffen?

Überrascht Sie das Chaos der Welt?

Nö. Mit den Tagen der Wende vor über 30 Jahren war mir klar, was kommen würde. Aus Spaß im durchsubventionierten Spielzeugland DDR wurde Ernst. Im Grunde ist Freude angebracht, dass es nicht schlimmer gekommen ist mit all den Einbrüchen in die echte Welt, in der ich seit gut 30 Jahren lebe. Als 2015 der Strom der Geflüchteten kam, dachte ich: Warum kommen sie erst jetzt? Das war das einzige, was mich wunderte.

Ansonsten, so klingt das, wundern Sie sich politisch über gar nichts mehr?

Na ja, so absolut behauptet, stimmt das nicht. Es macht mich vieles besorgt, wenn ich an die Umbrüche denke, die unser Land in den letzten Jahrzehnten zu verkraften hatte und die zu massiver Verunsicherung vieler Menschen beigetragen haben. Da ist an erster Stelle natürlich die Wende, die neben Freiheit und Wohlstand eine fundamentale Veränderung gebracht und das Gefüge unseres Landes an vielen Stellen in Ost und West in Frage stellt. Zu diesen Umbrüchen gehören aber auch der kollektive Stresstest in Sachen Digitalisierung, die Migrationsbewegungen, die Veränderungen der Europäischen Gemeinschaft, des Klimas und die politische und gesellschaftliche Zerrissenheit unseres Landes selbst, alles Veränderungen, die bei den Menschen große Ängste verursachen und somit enormen Druck. Und dann der massive Rechtsruck. Und wie wenig wir dem entgegenzusetzen haben, trotz unserer deutschen Geschichte.

Vielleicht auch wegen dieser Geschichte?

Der letzte Krieg ging vor fünfundsiebzig Jahren zu Ende. So vieles scheint noch unreflektiert, unbewältigt, überdauert in den Seelen. Jetzt ploppt also vieles auf, was sowieso schon lange da war.

Und Sie machen deshalb Filme?

Für die filmische Auseinandersetzung mit Alltags- und gesellschaftlichem Leben interessiere ich mich sehr. Oft für Geschichten, Charaktere und Persönlichkeiten, die bisher keinen Platz auf der großen Leinwand hatten. Dabei schaue ich gerne in unsere Dreckecken, auch in die unserer Vergangenheit.

Gottfried Benn sagt, es gebe im Grunde nur zwei Themen für Künstler: das Schuldigwerdenmüssen des Menschen - und den Tod.

Da geht Benn wohl zuallererst von sich selbst aus. Aber ja: die Schuldigwerdenmüsser, sie ziehen mich an. Vor allem deshalb, weil wir ja alle immer unschuldig, auf der richtigen Seite und die »Guten« sein wollen. Die heute existierenden Konflikte sind für uns schwer auszuhalten. Dass wir als Westeuropäer an der Ungleichverteilung in der Welt beteiligt sein könnten, darf nicht sein. Die Banken verspielen die Weltwirtschaft. Das ewige Eis schmilzt. Krieg und Terror bedrohen uns. Und wir Westeuropäer haben damit nichts zu tun? Wir waschen unsere Hände in Unschuld und trinken rasch einen Fair-Trade-Kaffee aus dem Mehrwegbecher. Ja, das ist mir langweilig. Mich interessieren Schuldige, Täter - und die Verhältnisse in ihren Zusammenhängen. Um das Drohende wahrzunehmen und zu beschreiben. Und vielleicht um angemessen handeln zu lernen, auf dass das Drohende nicht eintritt.

Vermissen Sie gesellschaftlich etwas?

Ich vermisse die Freiheit des Scheiterns, des Versagens. Wir leben doch in einer merkwürdigen Zeit: Alle wollen immer perfekt sein. Optimal. Deshalb sind die Helden meiner Filme für mich so wichtig: Alles was sie sich aufbauten, haben sie sich meist mit ihrem eigenen Hintern wieder eingerissen. Sie sind fehlbar. Im Osten war ja Scheitern noch erlaubt. Das hat die Gesellschaft irgendwie ausgehalten. Der untherapierbare Alkoholiker hat zur Not als Heizer im Betrieb noch einen Job bekommen und hatte ein Dach überm Kopf.

Volker Braun schrieb: »Wir stehen in der Schuld aller Orte, die verloren sind.«

Es ist generell schwer, Schuld einzugestehen und auszuhalten. Man möchte doch gerechtfertigt leben. Man möchte auf der siegreichen Seite sein. Mit meinen Filmen gehe ich gegen den gelogenen Trost von Unschuld an.

Sind Sie eine Wendegewinnlerin?

Unbedingt. Ohne den Zusammenbruch der DDR und den technischen Fortschritt hätte ich niemals Filme machen können. Im Osten konnte ich nicht studieren. Im Westen hat auch niemand wirklich auf meine Filme gewartet. Aber ich habe von Anfang an daran geglaubt, etwas Einmaliges in die deutsche Filmlandschaft einbringen zu können - als Teil der Generation der letzten Erwachsenen aus einem Land und einer Kultur, die nicht mehr existiert. Niemals hätte ich mir verziehen, es nicht zumindest versucht zu haben. Und so verbünde ich seit fast 15 Jahren viele tolle Filmkünstler miteinander. Und mache eben auch selbst Filme.

Manchmal sind sie extrem persönlich.

Ja, wie 2016 mein Film über meine liebste Freundin, »Fünf Sterne«. Sie ist jünger als ich und schon vor drei Jahren gestorben. Sie war eine schöne, begabte, fantasievolle, kluge Frau, die im Osten schon nicht funktioniert hat. Aber die Käseglocke DDR hat uns ja nicht nur eingeschlossen, sie hat uns auch geschützt. Wer heute nicht funktioniert, gerät unter die Räder, gilt als Versager, verliert seine Existenz. Es gibt ja viele Menschen, wie meine Freundin, die sich nicht in die Ecke drängen lassen wollen, weil sie kein Geld haben. Die sagen: Nee, diesen Ein-Euro-Job mache ich nicht; nee, ich zieh hier aus Mitte nicht weg, hier bin ich geboren. Dann lande ich lieber unter der Brücke. Und da landet man dann auch.

Funktionieren denn Sie?

Na klar. Ich funktioniere prima. Ich habe aber vor allem eine Familie, die mich hält und unterstützt, so dass ich die Sachen, die ich machen will, durchsetzen kann.

Ein grundsätzliches Empfinden von Unfreiheit wird kein Mensch los.

Natürlich, du bist immer inmitten von Bedingungen, die sich naturgemäß auch gegen dich und deine Wünsche stellen können. »In Grenzen frei sein« - das habe ich schon im Osten gelernt. Und das kann ich bis heute gut anwenden. Beschränkungen fordern mich extra heraus.

In jeder Bedrängung gibt es, wie Alexander Kluge eines seiner Bücher titelte, »Die Lücke, die der Teufel lässt«. Nicht jammern - Ihre Lebenshaltung?

Ich hatte eine Phase, in meinen Zwanzigern, da fand ich alles doof. Da habe ich mich selbst oft jammern hören. Kein Film, kein Theaterstück war gut genug, an allem hatte ich was auszusetzen. Aber gleichzeitig dachte ich: Was soll denn aus dir werden, wenn du jetzt schon immer nur nörgelst - du wirst ein grimmiger, garstiger, unglücklicher alter Mensch. Und dann habe ich mir gesagt: Mach’s doch selber. Habe dann Theater gemacht, Bühnenbild und Kostüme. Zwanzig Jahre, bis ich dann zum Film übergelaufen bin. Nach dem Motto: Mach deins! Das hat mich natürlich komplett überfordert.

Was ist denn das Ihre?

Mich faszinieren Parallelwelten, Welten, die Menschen gegen die sogenannte reale Welt gründen.

Wie Sie es selbst schon früher gemacht haben?

Als ich nach meiner Schuhmacherlehre an der Komischen Oper und nach meinen Ingenieur-Studium Erzeugnisgestaltung und Konstruktion (heute heißt das Design) meinen sicheren Job in einem Schuhbetrieb kündigte und mit einer bunten Truppe erst Mode machte und dann als Kostümbildnerin zum Theater ging, da fragten meine Freunde: Was soll das werden? Als ich mit 40 (!) Jahren Filme zu produzieren begann, fragten meine Freunde: Was soll denn das nun wieder? Keiner hat diese krassen Wechsel verstanden. Und natürlich habe ich dann erst mal unfassbar viele Filmförderanträge für die Tonne produziert. Die Neugier auf die Hölle des Entstehungsprozesses bei einem Film war aber so stark, dass trotzdem gleich ein paar ganz erfolgreiche Filme entstanden. Aber ohne meine Mitstreiter, meine »Filmfamilie«, die brillant ihr Handwerk beherrscht, wäre gar nichts gegangen. Da kann ich nur dankbar sein.

Das strahlt Selbstbewusstsein aus.

Das ist vielleicht eher Sturheit.

Es geht immer darum, dass man selber anfängt und nicht das System beklagt?

Kein System hat Bringpflicht. Ich entdeckte zum Beispiel Fassbinder für mich. Kein deutscher Filmregisseur war umstrittener, produktiver und besessener als Rainer Werner Fassbinder. Wenn ich mir anschaue, wie komplex und gleichzeitig persönlich sich Fassbinder der Deutschen Nachkriegsgeschichte gewidmet hat, ist dies bis heute unübertroffen. Fassbinder, sein Theater und seine Filme waren für mich die »Einstiegsdroge«. Später fragte ich mich, wieso es keinen Kinofilm über ihn gibt. Also machte ich einen, »Fassbinder«.

Klingt einfach.

War das Gegenteil davon, wirklich.

Ostdeutsche Filmemacher beklagen die fehlende Präsenz des Ostens in der deutschen Filmlandschaft.

Ja? Aber klagen hilft nicht, es hilft nur Schreiben und Drehen. Und Ausdauer im Dschungel der Filmförderanträge - die Konkurrenz ist groß. Mich stört im Übrigen nicht, wenn Westdeutsche über die DDR Filme machen. Diese andere Sicht ist doch interessant.

Das stört Sie nicht - was störte Sie denn?

Ich fand es nur schade, dass es wenig Ost-Filmemacher gab, die gute Filme über den Osten gemacht haben. Als leidenschaftliche Filmkonsumentin wartete ich nach dem Zusammenbruch der DDR oft vergeblich auf Filme, die zum Kern der historischen Wahrheit vordringen wollten. Die also zeigen, dass die Geschichte von Diktaturen mehr ist als die ihrer Herrschafts- und Unterdrückungsapparate. Die irgendetwas mit dem zu tun hatten, wie ich dieses Land wahrgenommen hatte. Aber unbedingt ist da »Sonnenallee« von Leander Haußmann zu nennen. Dieser Film, bis in kleinste Nebenrollen exzellent besetzt , das Drehbuch, die Kamera ... fantastisch.

Sie deuteten an: Konflikte zwischen Ost und West - wie schauen Sie selber auf den Westen, wie werden Sie angeschaut?

Ich lebe jetzt 30 Jahre in diesem so gar nicht mehr neuen Deutschland, und wenn ich in München sage, ich käme aus dem Osten, dann wird mir noch immer mitfühlend die Hand auf die Schulter gelegt und gesagt: Das tut mir aber leid. Etwas überspitzt gesagt, habe ich dann das Gefühl, als Wesen aus dem Osten soll man sich im Bestfall als jemand fühlen, der erfolgreich eine Umschulung geschafft hat, nämlich die zum Westdeutschen. Das regt mich auf. Aber am Kneipentisch über die eigene Identität zu lamentieren, ist nicht so mein Ding. Also: Filme! Und nach Stoffen, die zeigen, dass es komplex und emotional erzählte persönliche Geschichten und Biografien sind, die uns zu neuen Erkenntnissen und gedanklicher Reflexion bewegen, brauchte ich nicht zu suchen. Sie gehörten seit langem zu meinem Leben. Eigentlich mache ich als Regisseurin fast immer Filme über Leute, die ich noch aus den Zeiten vor dem Filmemachen kenne.

Sie sagten, Schuldige zögen Sie an. Die Menschen, die von Ihnen porträtiert werden, haben dieses sehr Besondere. Es sind, wie man so sagt, schillernde Figuren.

Mich interessieren Verführer, Macher, Charismaten.

Wer handelt, hat recht?

So würde ich das nicht sagen. Eher: Wer viel macht, kann viel falsch machen. Täter-Charaktere faszinieren mich. Sie reizen. Als ich den Film über den Dichter Sascha Anderson machte, der für den Staatssicherheitsdienst gearbeitet hat, meinten viele, ihm dürfe man keine Plattform bieten. Gleichzeitig stieß ich aber auf viele offene Wunden und Fragen. Sascha Anderson gehört zu unserer Geschichte, ob wir wollen oder nicht. Also versuchte ich etwas über den Stand unseres Umgangs mit dem Thema Stasi nach fünfundzwanzig Jahren Aufarbeitung zu erzählen. Bei der Premiere auf der »Berlinale« gab es zwischen den Zuschauern einen Riesenkrach. Die eine Hälfte hat vehement geflucht, die andere war dankbar und hat den Film verteidigt. Da habe ich gemerkt, dass dieses Thema noch lange nicht durch war. Warum auch. Verrat gibt es seit Beginn der Menschheitsgeschichte. Und mit dem Ende der DDR ist ja wohl das Thema Überwachung nicht beendet. Im Gegenteil.

Können Sie etwas mit dem Begriff Heimat anfangen?

Über Begriffe kann ich nicht sprechen. Aber vielleicht über Orte. Über meinen Heimatort. Berlin. Hier habe ich einen tiefen Pflock geschlagen. Die ollen Fassaden, das Ruppige, die hartnäckig bleibenden Einschüsse in den Mauern. Ich hörte Edgar Reitz zu seiner »Heimat«-Reihe vor kurzem sagen, er fühlte sich, als er die Idee hatte, seinen Heimatort Hunsrück zum Thema zu machen, als habe er eine Ölquelle im eigenen Garten entdeckt. So geht es mir mit Berlin. Hier spielen eigentlich fast alle meine Filme.

Dokumentarfilm ist ein seltsames Wort. Ein Dokument ist wahr - und doch zugleich eine Täuschung. Es geht bei den Tatsachen um die Fantasie, mit der sie kombiniert, konfrontiert werden.

In meinen Dokumentarfilmen geht es - neben dem »Dokument«, manchmal der »Chronik« - vor allem darum, das Private mit dem Gesellschaftlichen zu verbinden. Und dazu ist mir jedes Mittel recht. So finden sich in vielen meiner Filme auch fiktionale Elemente. Und es gibt Liebesgeschichten. In »Familie Brasch« habe ich versucht, etwas über Gefühle zu erzählen. Im doppelten Sinne: als Stoff und als Mittel. Das war eine tolle Herausforderung. Der Grund: Wie soll ich dem Menschen in München, dem ich leid tue, weil ich aus dem Osten komme, vermitteln, dass ich ihm nicht leid tun muss? Dass ein Ostler kein Mitleid braucht oder will. Erklärungen greifen meist nicht.

Was wäre zu erklären?

Wie verrückt und rebellisch wir es uns in unseren Nischen gemütlich gemacht hatten, wie egal Geld war, wie frei wir Frauen waren, dass die meisten ganz gerne in diesem Land lebten, dass es viele gab, die daran glaubten, dass die Welt ohne Unternehmer eine gerechtere sein könnte. Also, Erklärungen greifen da meist nicht. Aber Film kann’s. Die Reaktionen der Zuschauer nach »Familie Brasch« haben mir gezeigt, dass man den gewöhnlichen, archetypischen Vorgang der Auseinandersetzung als einen politischen wahrnimmt, auch wenn - oder gerade weil - er sich innerhalb einer Familie abspielt. Da, wo es besonders tragisch ist, ist es auch komisch, und da wo es besonders brutal ist, ist es auch besonders zärtlich. Liebe und Leidenschaft spielten in dieser Familie eine große Rolle, genau wie Entfremdung und Einsamkeit. Wie es sich für eine Jahrhundertgeschichte gehört. Das hat was von Shakespeare. In dieser Familie und in diesem Land ging es um etwas. Und das ging eben auch verloren.

Neben dem Trauma, das aus dem Krieg wuchs, gab es im Osten doch auch den Traum, eine neue Welt zu schaffen.

Eben. Was kann es erst mal Schöneres geben als eine neue, gerechtere Gesellschaft aufzubauen? Das muss man sich heute mal vorstellen! Die alten DDR-Funktionäre waren ja damals sehr jung. Die haben ihren Traum tatsächlich gelebt, und ihnen ist ja auch viel gelungen. Es ging um nicht weniger als die letzte große Utopie, während gleichzeitig der tief humanistische Gesellschaftsentwurf, der dem Antifaschismus entsprang, zur Diktatur mutierte. Beide Seiten, beide Generationen glaubten an die Möglichkeit einer besseren Welt. Beide Seiten führten eine verzweifelte Auseinandersetzung darüber, welcher Weg der richtige wäre. Die Jungen mit Hoffnung, Offenheit und Neugier, bis sie am Herrschaftsanspruch der Alten abprallten.

Wie groß muss die Enttäuschung der Kinder gewesen sein, die den Traum vom Sozialismus teilten, sich aber mit den realen Zuständen nicht abfinden konnten. Die Alten stellten sich offensichtlich vor, dass eine, nämlich ihre Generation, ausreicht, um so einen gewaltigen gesellschaftlichen Umbruch durchzusetzen. Sie meinten wohl, dass sie die Talente und Kapazitäten ihrer Kinder nicht nötig hätten. Fatale Fehleinschätzungen, aus denen wir vielleicht etwas lernen können. Heute in Zeiten, da meine Generation die Schaltstellen der großen und kleinen Macht besetzt.

Thomas Brasch fand dafür einen Buchtitel: »Vor den Vätern sterben die Söhne«.

Ja. Und da kommt bei mir die Frage auf: Was geben wir unseren Kindern heute weiter - in einer Welt, in der es jetzt anscheinend ebenso epochale Umbrüche gibt?

Sie durften in der DDR kein Abitur machen.

Ich habe die zehnte Klasse mit Ach und Krach bewältigt - und das, obwohl ich eine gute Schülerin war. Seinen Ausgangspunkt hatte das Ganze wohl in einer Rede zur Jugendweihefeier im Kino »International«. Ich war ausgewählt worden, Dankesworte an die Berliner Lehrer zu richten. Das galt als Auszeichnung. Am Morgen der Feier fand ich zu Hause diese Rede nicht mehr, Lehrer hatten sie geschrieben, im Grunde sollte ich nur von einem mir fremden Papier ablesen. Aber, wie gesagt, ich wusste nicht mehr, wo ich es hingelegt hatte. Und ich war zu sehr mit mir selber beschäftigt. Es waren die siebziger Jahre. Ich hatte zu tun meine frisch gewaschenen langen Haare hippiemäßig in strähnige Form zu bringen.

Das war Ihnen an jenem Morgen wichtiger, als weiter nach der Rede zu suchen?

Ja. Ich hielt dann in meiner Not, aber ziemlich unbekümmert, eine freie eigene Rede, eine Rede ohne diese vielen ideologischen Ismus-Worte der Vorlage. Danach war nichts mehr, wie es vorher war. Man kann nicht sagen, ich sei definitiv und immer nachweisbar gemaßregelt oder bestraft worden, nein, es kam an meiner Schule zu einer atmosphärischen Veränderung mir gegenüber, so dass ich keinen Fuß mehr in irgend eine Tür bekam.

Der Preis für Ihre Opposition?

Frech war ich immer, aber Opposition? Nö. Meine nicht ondulierten Haare waren an jenem Morgen rebellischer als mein Gedanken.

Haben Sie je den Gedanken gehabt, in eine Partei einzutreten?

Zu einer Gruppierung dazuzugehören, war nie mein Antrieb. Das habe ich schon in der DDR gelernt. Gemeinschaft ist mir wichtig, aber nicht zu ideologischen Zwecken. Die Freiheit, eine eigene Meinung, einen eigenen Blick auf die Welt zu haben, habe ich mir immer genommen. Das haben mir schon meine Eltern beigebracht.

Nochmal zum Benn-Zitat. Über Schuld und Schuldige haben Sie gesprochen. Denken Sie über den Tod nach?

Fortwährend. Mein neuer Film »Schönheit und Vergänglichkeit« trägt den Widerspruch, der immer wieder nach uns greift, schon im Titel. Unsere Endlichkeit hat etwas Peinigendes. Auch schreiend Ungerechtes. Also: Mich kotzen das Älterwerden und der Tod an. Mit dem Tod umzugehen, habe ich nicht gelernt. Wenn ich das sage, höre ich oft Satz: Das Sterben gehört zum Leben. Na klar gehört das Sterben zum Leben ...

Das Streben wie das Sterben.

... Ja ja. Es gibt Dinge, die muss man hinnehmen, aber man muss sie nicht auch noch gut finden. Und je älter ich werde, komme ich immer mehr in Berührung mit dem Tod. Zuletzt wird das der eigene sein. Aber vielleicht wird das dann lustig.