nd-aktuell.de / 03.02.2020 / Berlin / Seite 9

Die koloniale Vergangenheit freilegen

Mit breitem erinnerungskulturellen Konzept will Berlin sich endlich seiner Geschichte stellen

Claudia Krieg

Paul Spies, Direktor des Berliner Stadtmuseums, scheint es noch nicht ganz glauben zu können: »Wenn ich bei mir im Haus frage: ›Willst du bei einem Dekolonialisierungs-Projekt mitmachen?‹, dann sagen die alle: ›Ja‹.« Dabei habe er nicht einmal nur »die üblichen Verdächtigen« gefragt. Der für seine progressiven Museumskonzepte bekannte Spies stellte am vergangenen Freitag unter anderem zusammen mit Kultursenator Klaus Lederer (LINKE) und Tahir Della von der Initiative Schwarze Deutsche (ISD) ein Programm vor, das - so Lederer - »Maßstäbe setzen« wolle. Es geht dabei um nichts Geringeres als die koloniale Geschichte Berlins. »Treptower Park, Afrikanisches Viertel, die Kolonialbehörden in der Wilhelmstraße, der alte Hafen als Ort des Sklavenhandels«, zählt der Kultursenator exemplarisch einige Orte auf, an denen Berlins Historie als Industrie- und Handelsstadt eng verknüpft ist mit der Geschichte von brutaler Ausbeutung und Entrechtung, die bis in die Gegenwart hineinreicht.

Insgesamt sei es an »mindestens 1000 Orten« in der Hauptstadt möglich, diese frei zu legen, sichtbar zu machen und vor allem: sie um neue Perspektiven zu ergänzen, erklärt Christian Kopp von der Initiative Berlin Postkolonial. Der Verein bemüht sich seit vielen Jahren darum, kritisch, aktivistisch und historisch fundiert mit postkolonialer Aufklärungsarbeit in den Stadtraum hineinzuwirken. Er setzt sich unter anderem für Straßenumbenennungen ein, um Menschen, die gegen koloniale Gewalt Widerstand geleistet haben, zu würdigen. Eben diese Vorgehensweise soll nun auf Augenhöhe, wie alle Beteiligten betonen, auf einen größeren Rahmen übertragen werden.

Hinter dem zurückhaltenden Arbeitstitel »Initiative für ein postkoloniales Erinnern in der Stadt« verbirgt sich ein Projekt mit Ausstellungen und Veranstaltungen, die in unterschiedlichen Stadtbezirken die lokale Kolonialgeschichte beleuchten und nach Verbindungen zu aktuellen Ungleichheiten fragen will. Jährlich soll ein Kulturfestival zu dekolonialen Perspektiven ausgerichtet werden. Zudem wird eine Online-Kartierung erstellt, die koloniale und postkoloniale Erinnerungsorte in Berlin, in Deutschland und in seinen ehemaligen Kolonien sowie deren Verbindungen dokumentiert. All dies soll sich »an eine breite und diverse Stadtgesellschaft« richten. Eine mobile Beratung soll Institutionen dabei helfen, sich mit ihrer Geschichte zu befassen.

Das Land Berlin investiert in das Programm zwei Millionen Euro, die Kulturstiftung des Bundes gibt eine weitere Million dazu. Das Stadtmuseum will zunächst anderthalb Stellen für das Vorhaben einrichten. Es ist eine auf fünf Jahre angelegte Kooperation, die die Senatsverwaltung für Kultur und Europa zusammen mit der Kulturstiftung des Bundes sowie mit dem Stadtmuseum Berlin und vor allem Vereinen wie Each One Teach One, Initiative Schwarze Deutsche und dem Berliner Entwicklungspolitischen Ratschlag auf den Weg gebracht hat. Immer wieder wird besonders die Rolle der zivilgesellschaftlichen Akteure hervorgehoben. Hier, so Spies, habe man die Expertise, die in vielen Institutionen, darunter wissenschaftlichen Einrichtungen, häufig fehle. Daher seien auch viele Kulturarbeiter*innen sehr offen für solche Kooperationen.

Auch Hortensia Völckers von der Bundeskulturstiftung befand es als »extrem erfreulich« zu sehen, dass es augenscheinlich ein besonderes Anliegen sei, »zum Thema Kolonialismus vor allem die Zivilgesellschaft zu Wort kommen zu lassen«. Sie wünsche sich, dass mehr Städte mit solchen Anliegen auf ihre Einrichtung zugehen würden, lobt Völckers die »exemplarische Initiative« Berlins.

»Ohne das Engagement der Vereine wäre hier gar nichts passiert«, gibt Klaus Lederer zu. Viele Menschen würden beim Thema Kolonialismus mit Abwehr, Leugnung und Verdrängung reagieren. Dies zeige, wie tief sich der Kolonialismus in die Gesellschaft der Kolonisatoren eingeschrieben habe. Gegen Schlussstrich-Forderungen, so Lederer, helfen nur Wissen und eine Erinnerung mit deutlichen Bezüge in die Gegenwart.

Tahir Della stimmt dem Kultursenator zu: »Kolonialismus ist kein Thema, was kurz historisch abgearbeitet werden kann«. Weit darüber hinaus gehe es um die Frage, die zurzeit viele Menschen bewegt: »In welcher Gesellschaft wollen wir leben?«