• Berlin
  • Rassismus und Antisemitismus

Die Angst im Nacken

Bessere Maßnahmen zur Verfolgung von Hassgewalt gefordert.

  • Marie Frank
  • Lesedauer: 6 Min.

Bedrohung und Hassgewalt gehört für viele Menschen zum Alltag - auch in der vermeintlich so weltoffenen Metropole Berlin. Als wäre das nicht schlimm genug, werden die Betroffenen von der Polizei danach oftmals nicht ernst genommen oder geraten selbst ins Visier der Beamt*innen. Diese Täter-Opfer-Umkehr hat auch der Nebenklagevertreter im NSU-Prozess, Mehmet Daimagüler, schon oft erlebt. Nicht nur bei seinen Mandant*innen, sondern auch am eigenen Leib. Ein Erlebnis ist ihm dabei besonders in Erinnerung geblieben: Eines Tages fragte der Rechtsanwalt eine Frau in einem überfüllten Zug, ob der Platz neben ihr noch frei sei. Die Frau verneinte. Als der Platz jedoch leer blieb, setzte sich Daimagüler neben sie. Die Frau rief daraufhin die im Zug befindlichen Grenzbeamten. Nach der Schilderung der Ereignisse meinten die Polizisten: »Sie haben sich beide falsch verhalten« und zogen ab. Als die dadurch offenbar ermutigte Frau wenige Minuten später ausstieg, schlug sie Daimagüler ins Gesicht und zischte ihm zu: »Du Schwein.«

Das ist nur eine der vielen Situationen, die Migrant*innen, Frauen*, Schwule, Lesben oder Transpersonen häufig erleben. Wie man Hassgewalt begegnen und Betroffene stärken kann, darüber diskutierten am Donnerstag über 250 Vertreter*innen aus Justiz, Ermittlungsbehörden, Zivilgesellschaft und Betroffenenverbänden. Wie wichtig auch dem Berliner Senat das Thema ist, zeigte sich schon daran, dass für die Veranstaltung der Amadeu-Antonio-Stiftung das gesamte Rote Rathaus zur Verfügung gestellt wurde. Warum Hassgewalt von normaler Kriminalität zu unterscheiden ist, zeigt das Beispiel von Daimagüler: »Menschen werden nur aufgrund ihrer Hautfarbe oder ihrer sexuellen Identität angegriffen, ohne dass sie etwas getan haben«, so der Anwalt in seiner Eröffnungsrede. »Das versetzt die Opfer in Angst und Schrecken. Sie müssen befürchten, jederzeit wieder angegriffen zu werden.« Hier sei die gesamte Gesellschaft gefragt: »Die Lehre aus dem NSU ist, endlich aufzuhören, das Maul zu halten. Schweigen ist Mittäterschaft.«

Das Problem: Oft wird Hasskriminalität von den hinzugezogenen Polizist*innen gar nicht als solche erkannt. »Ob Straftaten als politisch motivierte Kriminalität erfasst werden, hängt von den Beamten ab«, weiß auch Daniel Hiltmann, der beim Berliner Landeskriminalamt (LKA) in der Abteilung »Politisch motivierte Kriminalität - rechts« arbeitet. Eigentlich gebe es dafür eine einheitliche Definition, und in Berlin bemühe man sich auch um eine entsprechende Sensibilisierung der Beamten, aber: »Es kommt immer wieder vor, dass Sachverhalte nicht erkannt werden«, räumt Hiltmann ein. Hier sei die Polizei vor allem auf die Zivilgesellschaft angewiesen. So arbeite das LKA eng mit den Berliner Registerstellen zusammen, die rassistische, antisemitische und andere diskriminierende Vorfälle dokumentieren. Seit 2016 gibt es in jedem der zwölf Berliner Bezirke ein Register.

Manche Polizist*innen würden bei Hassgewalt bewusst nicht hinschauen, meint die Gesamtkoordinatorin der Berliner Register, Kati Becker. »Wenn Beamte die politische Motivation nicht erkennen, wenn jemand einen Hitlergruß macht oder Hakenkreuze sprüht, muss man davon ausgehen, dass sie es nicht erkennen wollen, weil sie selbst rechtsgerichtet sind«, ist sie überzeugt. Wenn die Betroffenen jedoch nicht ernst genommen werden, würden sie das Vertrauen in die Polizei verlieren und diese auch nicht mehr rufen, weiß Becker aus Erfahrung.

Das Problem kennt auch Saideh Saadat-Lendle von der Antidiskriminierungsstelle der Lesbenberatung Lesmigras. »70 Prozent der Transpersonen in unserer Beratung haben körperliche Gewalt erlebt, aber nur fünf Prozent wollen das auch anzeigen«, berichtet sie. Es komme immer wieder vor, dass Polizist*innen versuchten, den Betroffenen eine Anzeige auszureden. »Es gibt kein Vertrauen, dass die Leute gehört und ernst genommen werden«, konstatiert Saadat-Lendle. Um das zu ändern, brauche es regelmäßige Fortbildungen sowie Studien zur Haltung der Polizeibeamt*innen. »Wir müssen bei der Polizei genau hinschauen, was sexistische, rassistische oder transphobe Einstellungen angeht.«

Um die Anzeigebereitschaft der Betroffenen zu steigern, gibt es bei der Berliner Polizei bereits seit mehr als 20 Jahren eine Ansprechperson für homo- und transphobe Hasskriminalität. Auch bei der Staatsanwaltschaft gibt es Ansprechpersonen, an die sich lesbische, schwule, bisexuelle, transsexuelle und intersexuelle Betroffene direkt wenden können. Die Zahl der Fälle in diesem Bereich steige seit Jahren kontinuierlich, berichtet Staatsanwalt Adrian Voigt, der die Abteilung mit gegründet hat. Waren es vor einigen Jahren noch rund 120 Fälle pro Jahr, die meisten davon Beleidigungen, wurden im vergangenen Jahr 261 Anzeigen gestellt - also mehr als doppelt so viele. »Ob es mehr Straftaten gibt oder die Anzeigebereitschaft steigt, weiß man natürlich nicht«, so Voigt.

Wichtig sind solche Ansprechpersonen vor allem deswegen, weil sie dafür sorgen, dass die Verfahren nicht aufgrund eines vermeintlich fehlenden öffentlichen Interesses eingestellt werden. Seit sechs Monaten gibt es bei der Berliner Polizei auch einen Antisemitismusbeauftragten - wenn auch keinen hauptamtlichen. Einen Rassismusbeauftragten gibt es nach wie vor jedoch nicht, obwohl zivilgesellschaftliche Organisationen das seit Jahren fordern. »Das ist letztlich eine politische Entscheidung«, sagt der Antisemitismusbeauftragte der Polizei, Wolfram Pemp, und verweist auf die Zukunft: »Wer weiß, vielleicht haben wir in ein paar Jahren Beauftragte für alle Formen von Hasskriminalität.«

Wie schwierig der Weg dahin ist, weiß auch Staatsanwalt Voigt: »Als wir damit angefangen haben, Polizeibeamte darin zu schulen, schon bei der Anzeigenaufnahme darauf zu achten, ob es sich um eine homo- oder transphobe Straftat handelt, hieß es aus Brandenburg: ›Das können Sie bei sich in Schöneberg machen, aber nicht bei uns auf dem flachen Land.‹« Das greife zu sehr in das Denken der Polizeibeamten ein, habe es damals geheißen. Beim Thema Antisemitismus soll es ab Anfang nächsten Jahres zusätzliche Ausbildungen für die Führungskräfte bei der Berliner Polizei geben, kündigt Wolfram Pemp an. Dass es damit lange nicht getan ist, weiß er auch: »Den Beamten klarzumachen, dass die Polizei, anders als zu düsteren Zeiten, der Beschützer von Minderheiten ist, ist eine Daueraufgabe.«

Eine Aufgabe, die in Zeiten des zunehmenden Rechtsrucks der Gesellschaft umso dringlicher ist. »Die Bedrohungslage hat sich enorm verschärft«, sagt Judith Rahner, Leiterin der Fachstelle Gender, gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit und Rechtsextremismus bei der Amadeu-Antonio-Stiftung. So hätten sich die Angriffsziele von Rechtsextremen mittlerweile vervielfacht, und auch Journalist*innen, zivilgesellschaftliche Organisationen und Gewerkschaften gerieten zunehmend in den Fokus. »Es gibt ein Klima der Angst«, so Rahner. Auch wer nicht selbst betroffen sei, spüre das Damoklesschwert der Bedrohung über sich.

Ideen, was gegen die zunehmende Hasskriminalität unternommen werden kann, hat Rahner viele: Etwa eine bessere Zusammenarbeit zwischen den Ermittlungsbehörden, aber auch mit den Betroffenen selbst, die endlich ernst genommen werden müssten. »Hassverbrechen sollten aufgrund des hohen öffentlichen Interesses generell nicht eingestellt werden«, findet sie. Auch brauche es unabhängige Ansprechpersonen für alle von Hasskriminalität betroffenen Gruppen. Und vor allem: »Hassgewalt darf nicht entpolitisiert werden, etwa indem von psychisch verwirrten Einzeltätern die Rede ist. Neonazi und psychisch verwirrt zu sein, schließt sich nicht aus.«

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