nd-aktuell.de / 22.02.2020 / Kultur / Seite 16

Die roten Kehlen von Neukölln

Die Frauen des Arbeiter- und Veteranenchors Berlin-Neukölln singen seit 34 Jahren Lieder für Frieden, Solidarität und über die Arbeiterklasse. Wer sind diese Frauen, und was treibt sie an?

Lena Fiedler

Wir haben vielleicht nicht so viel Stimme, singen aber mit viel Herz.« Ursula Hybbeneth steht vor einer Tür in Berlin-Neukölln und wartet auf den Beginn der Probe. Sie ist künstlerische Leiterin des Arbeiter- und Veteranenchors Neukölln und auch deshalb ist es ihr wichtig, pünktlich zu beginnen. Als der Chor sich 1986, im internationalen Jahr des Friedens gründete, waren sie noch etwa doppelt so viele Sängerinnen und Sänger. Mittlerweile treffen sich jeden Mittwoch noch etwa 20 Frauen, um gemeinsam zu singen.

Im Proberaum an der Hasenheide gehen die Stimmen die Tonleiter rauf und wieder runter. Die Frauen haben Liederbücher auf dem Schoß, rot eingeschlagene Hefter, auf dem Deckblatt eine Friedenstaube mit roter Musiknote im Schnabel - das Emblem des Chors. Musik und Frieden eben, so wie es die Gründungsmitglieder von 1986 wollten. Eine Frau am Klavier stimmt die ersten Takte des Lieds »Arbeiter von Wien« an. Nicht jede Note sitzt, aber der Chorgeist sei eben wichtiger als der musikalische Anspruch, findet Hybbeneth.

Es sind Rentnerinnen, die sich schon viele Jahre kennen und denen die wöchentliche Probe Halt und Struktur gibt. Aber das ist nicht der einzige Grund. Für sie ist der Chor heute noch singender politischer Ausdruck. Und das in einer Zeit, in der kaum noch jemand Arbeiterlieder singt - außer vielleicht das Partisanenlied »Bella Ciao« im Remix, das kürzlich Sommerhit war - und Antifaschismus als linksextreme Sache abgetan wird. Wenn die Frauen über ihren Chor reden, fallen aber auch Begriffe wie Tradition, Heimat und Herkunft, um die sich heute wieder in verschiedenen politischen Lagern gestritten wird.

Hybbeneth lernte den Chor kurz vor dem 1. Mai 1987 kennen, Tag der Arbeit. Sie ging zur Probe und dann direkt mit auf die Straße. Nachbarn, Freunde und Familie, alles Arbeiterkinder aus Neukölln. Die heute 74-Jährige war Mitglied der Sozialistischen Einheitspartei Westberlins, einer von der SED abstammenden Parteischwester. Hybbeneth ist konsequent. Nachdem die SEW sich 1991 auflöste, hat sie sich nie wieder einer Partei angeschlossen. Die resolute Frau, die sich von allen hier nur Uschi nennen lässt, wuchs mit den Liedern von Ernst Busch, Hanns Eisler oder Bertolt Brecht auf - die will sie heute vor dem Vergessen bewahren. Aber nicht alle Mitglieder haben die Lieder mit der Muttermilch aufgesogen. Es sind einige dabei, für die an erster Stelle der Frieden auf der Welt steht. Sie setzen sich auch dafür ein, ob auf Demonstrationen, in der ehrenamtlichen Arbeit im Kiez oder eben während ihrer Konzerte.

Das nächste Lied, das die Sängerinnen anstimmen, klingt so aktuell, als sei es gerade erst auf einer »Fridays for future«-Demonstration gedichtet worden: »Der blaue Planet«, ein Song der DDR-Band Karat. »Tanzt unsere Welt mit sich selbst schon im Fieber? Wird nur noch Staub und Gestein aus dem Rand alle Zeit auf der Erde sein? Uns hilft kein Gott, unsre Welt zu erhalten!«

In der zweiten Reihe, links neben Hybbeneth, sitzt Karin Dalhus. Sie hat eine besondere Position im Chor. Die ruhige und nachdenkliche Frau war keine Kommunistin in der BRD, sondern ein politisch überzeugtes Parteimitglied in der DDR. 1981 wurde sie von ihrer Geburtsstadt Leipzig nach Ostberlin versetzt, wo sie, eine Erzieherin, in einer Schule gebraucht wurde. Sie zog nach Marzahn, wo sie bis heute lebt. Zur Chorprobe fährt sie jedes Mal anderthalb Stunden mit dem ÖPNV hin und wieder zurück nach Hause. Auch wenn die heute 68-Jährige den Eindruck macht, fest im Leben zu stehen; für Dalhus war die Wende eine Katastrophe. Die Pionierorganisation Ernst Thälmann und die Freie Deutsche Jugend wurden aufgelöst, die Schulbücher weggeworfen, Dalhus aus dem Schuldienst entlassen, ihre Abschlüsse nicht anerkannt. Eine Nachbarin, die schon verstorben ist, nahm Dalhus damals mit zum Chor. Das erklärt auch, warum die Marzahnerin nicht im Ernst-Busch-Chor singt, dem zweiten großen Veteranenchor Berlins.

Beide Chöre sangen damals in Berlin, die einen im Westen, die anderen im Osten. Obwohl beide Chöre für dieselbe Sache sangen, unterschieden sie sich in der Grundhaltung. Die Sängerinnen und Sänger im Ernst-Busch-Chor seien Rentner gewesen, ein wenig gesetzter, während der Arbeiter- und Veteranenchor auch für die Arbeiter*innen da sein wollte, deswegen der Name. Bis zur Wende wurde der Ernst-Busch-Chor über die Partei finanziert. »Wir mussten immer kämpfen«, erinnert sich Hybbeneth. Es war eben eine andere Sache, den Sozialismus in den Westen holen zu wollen, man befand sich außerhalb des Systems. Hybbeneth erinnert sich an Leute in der Nachbarschaft, die ihr und ihrer Familie gesagt haben, sie solle »doch rüber gehen«, wenn ihr der Kommunismus so zusage.

Für Hybbeneth und ihren Chor war der Untergang der DDR weniger bedeutsam. »Wir waren vorher und auch nachher im Kapitalismus.« Persönlich traurig war sie schon. War die DDR doch der erste Staat, der versuchte, das umzusetzen, wofür sie sich einsetzte. Als sie nach der Wende nach und nach von den Entwicklungen und Geschehnissen in der DDR erfuhr, die im Namen des Staates passierten, war sie erschrocken. Das änderte aber nichts daran, dass für sie der Sozialismus die richtige Gesellschaftsform ist, sagt sie. Der Kapitalismus löse nicht die Probleme der Gegenwart.

»Ganz nostalgisch sind wir ja auch nicht«, sagt Hybbeneth. Neulich sei der Chor auf einer Kundgebung zur Mietenproblematik in der Gropiusstadt gewesen und habe da den »Baggerführer Willibald« hervorgeholt, ein fröhliches Kinderlied über Mietenwahnsinn und Immobilienspekulation. Das große Wohnhaus, in dem der Chor auch zeitweise geprobt hatte, wurde von der »Deutschen Wohnen« gekauft, und die Mieter haben nun Angst, dass die Mieten erhöht werden.

Obwohl der Chor und seine Mitglieder anfangs den Eindruck erweckten, in der Vergangenheit verhaftet zu sein, merkt man, dass sie durch ihre Erlebnisse auch eine aktive Bestimmung in der Gegenwart gefunden haben. Neben dem Chor arbeitet Dalhus zum Beispiel als Ehrenamtliche beim Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten und organisiert Ausstellungen und Aktionen zur Erinnerungskultur in Marzahn-Hellersdorf. Sie und die anderen Chorfrauen beteiligen sich am Bündnis Neukölln, einem Zusammenschluss von Menschen im Kiez für mehr Vielfalt und Demokratie.

Hybbeneth und Dalhus gehen auf die Straße, wenn sie hören, dass es rechte Anschläge gegeben hat, so wie 2018 gegen den Linken-Politiker Ferat Kocak, oder wie ein paar Jahre zuvor gegen die Neuköllner Falken. Dann wird der Chor, und das, was er vermitteln will, wieder sehr gegenwärtig. Und als der Chor von einer Theaterregisseurin des Heimathafens Neuköllns angesprochen wurde, ob sie nicht Interesse hätten, an einem Theaterprojekt mitzuwirken, seien damals »alle Hände hochgegangen«, erzählt Hybbeneth. Neben den Chorproben haben die Frauen nun auch Theaterproben. »La deutsche Vita« wird das Stück heißen, in dem der Chor sich selber spielt. Und es wird um ihre Themen gehen, Solidarität im Neoliberalismus, das Verständnis von Heimat und um sozialistische Utopien. Der Begriff der Heimat ist Hybbeneth gerade jetzt wichtig. »Willste das jetzt den Rechten überlassen?«, fragt sie und erklärt, dass für sie der Begriff Heimat schön ist und nichts Nationalistisches haben müsse. Dalhus nickt und zitiert die ersten Zeilen von »Die Heimat hat sich schön gemacht«, einem Lied aus der DDR.

Das Bildarchiv akg-images führt eine Fotografie des Chors von 1998. Hybbeneth beugt sich darüber. Frauen und Männer in weißen Hemden mit rotem Schal, in zwei Reihen aufgestellt. »Der da oben ist tot ... Sie auch.« Sie geht die Reihen entlang. »Tot. Gestorben.« Ihr Finger stoppt über einer Frau mit weißen Haaren in der ersten Reihe. »Brigitte erkennt man sofort.« Dalhus nickt. »Die hat sich kaum verändert.« Zu welchem Anlass das Bild aufgenommen wurde, weiß Hybbeneth nicht mehr, aber winkt Helga heran, deren Vater Gründungsmitglied war. Noch bis vor zwei Monaten war der Chor gemischt, dann verstarb auch der letzte männliche Teilnehmer. Und so viele neue männliche Chormitglieder kämen eben nicht nach. »Viele Chöre klagen darüber«, sagt Hybbeneth. Ihre Nachwuchsarbeit besteht darin, öffentlich mit ihren Liedern aufzutreten.

Das »Singen der Lieder der deutschen Arbeiterbewegung« wurde im Dezember 2014 von der UNESCO zum immateriellen Kulturerbe erklärt. »Klar kriegst du mit den Liedern von damals nicht mehr alle hinterm Ofen hervorgelockt«, sagt Hybbeneth, »aber auch, weil deren Klassenbewusstsein nicht mehr da ist.« Wenn Arbeit und Freizeit ineinander übergehen und die Grenze zwischen Chef und Nichtchef verschwimmen, könne sich das kaum noch entwickeln, vermuten Hybbeneth und Dalhus. Der Chor ist für die Frauen nicht nur eine Freizeitbeschäftigung in der Rente, sondern ihre politische Heimat. Sie bewahren mit ihm eine Zeit, in der es in ihrem Umfeld ein klares Klassenbewusstsein und eine traditionelle Form des politischen Protests gab.

Während die Frauen über den Chor reden, zeigt sich aber auch, dass sich eine Auseinandersetzung mit ihren Zielen und Einstellungen lohnt. Sie bewahren ihre Ideale einer solidarischen Gemeinschaft für den Moment, wenn sie benötigt werden. Auf der nächsten Demonstration gegen Rechts in Neukölln werden sie da sein und - wenn man sie einlädt - Arbeiterlieder für den Frieden singen.

Der Arbeiter- und Veteranenchor wirkt im Theaterstück »La deutsche Vita« mit, das vom 22. bis 28. Februar im Heimathafen Berlin-Neukölln zu sehen ist.