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»Ich bin normal, normal, normal«

Herkunft, Künstlertum, Liebe, Elternschaft und Depression - der Debütroman von Marina Frenk

  • Guido Speckmann
  • Lesedauer: 3 Min.

»Verloren gehen fühlt sich einsam an, aber auch interessant«, heißt es im Prolog von »ewig her und gar nicht wahr«, dem Debütroman der Berliner Schauspielerin und Musikerin Marina Frenk. Im Prolog lässt sie ihre Ich-Erzählerin sprechen, die Künstlerin Kira Liberman. Im Alter von fünf Jahren ist sie am Strand des Schwarzen Meeres für kurze Zeit verloren gegangen. Das Kind akzeptierte dies und fragte sich, ob dieser Zustand nun bis zum Tod anhalten wird. Auch später legt sie ein seltsames Verhalten an den Tag. Sie lebt in Berlin-Friedrichshain mit Freund und kleinem Sohn und fügt sich Brandwunden zu, schneidet sich eine Glatze, sie hat Folterfantasien, führt Selbstgespräche und murmelt vor sich hin: »Ich bin normal, normal, normal.«

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Marina Frenk: ewig her und gar nicht wahr.
Wagenbach, 240 S., geb., 22 €.

Sie leidet an sich und der Welt, hat Depressionen. Suizid? Nein, dafür sei sie zu kleingeistig, sagt Kira. Das wäre ja fast pathetisch. Und sie hat ja Karl, ihren kleinen Sohn. Außerdem lebt sie im Wohlstand - zumindest verglichen mit Moldawien, von wo sie 1993 mit ihren jüdischen Eltern aufgebrochen war, um in das »bessere Europa« zu gelangen.

Sie flohen mit Auto und Anhänger vor den Unabhängigkeitswirren des Landes. Die in die jüdische Tradition eingeschriebene Furcht vor Vertreibung, Deportationen und Pogromen spielte dabei eine Rolle. Von diesen Schreckenserfahrungen lässt Marina Frenk ihre Protagonisten in retrospektiven Kapiteln erzählen. So entkamen ihre Großeltern dem Naziterror nur, weil die Sowjetunion sie evakuierte.

Heute leben Kiras Angehörigen in Deutschland, Israel, Moldawien und den USA. Angekommen sind sie aber nirgends so richtig, hängen an ihrer Sprache, dem Jiddischen. Kira zieht es stets in die Fänge ihrer Familie zurück, obwohl Gespräche mit ihrer Mutter nie ohne Vorwürfe auskommen oder eine Großtante sie während eines Besuchs in New York fast wahnsinnig macht mit ihrer Besorgtheit und den Erinnerungen an die Zeit in Moldawien.

Der Verlust der Herkunft - er ist nicht einmal historisch zu rekonstruieren. Kiras beste Freundin fasst zusammen: »Sagen wir einfach, es ist ewig her und gar nicht wahr.«

Der Roman ist auch ein jüdischer Familienroman. Mehr noch aber ist er ein Künstler- und Identitätsroman. Kira ist Malerin - gegen den Willen ihrer Eltern - und blickt bereits auf eine erfolgreiche Ausstellung zurück. Von dem Geld zehrt sie bis heute. Danach aber ließ die ehrgeizige Agentin sie fallen. Keine weiteren Ausstellungen, die Bilder sammeln sich auf dem Dachboden. So ist sie gezwungen, kleinen Kindern Zeichenunterricht zu geben, um über die Runden zu kommen und nicht von ihrem Freund Marc - »ein schweigendes Loch« - abhängig zu sein.

Wie Marina Frenk, die wie ihre Protagonistin aus Moldawien stammt und 1993 nach Deutschland migrierte, in ihrem Buch diese verschiedenen Themen - Herkunft, Künstlertum, Liebe, Elternschaft und Depression - sprachlich elegant und kompositorisch geschickt miteinander verwebt, ist beeindruckend. Guido Speckmann

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