nd-aktuell.de / 13.03.2020 / Politik

»Wir sind wandelnde Tote«

ZWISCHEN HIMMEL UND HÖLLE - Teil drei des Tagebuchs von der türkisch-griechischen Grenze

Fabian Goldmann, Edirne

»Ey Du, warte mal«, kommt ein breit gebauter Mann zur mir angelaufen. »Du bist doch Journalist. Kannst du Deinen Leuten zu Hause etwas ausrichten«, fragt er und fängt, ohne auf die Antwort zu warten, an zu reden. Ja, kann ich. Das ist die Geschichte des 32-jährigen Irakers Sirwan:

Ich bin Kurde aus Irak, aus Erbil. Vor dem Krieg hatten wir ein gutes Leben. Ich habe als Mechaniker gearbeitet. Es war schwer, aber es war in Ordnung für uns. Als der IS zu uns kam, ging ich zu den Peschmerga. Du kennst doch die Peschmerga im Irak? Ich war dabei, als der IS nach Erbil kam. Wir haben gegen den IS gekämpft, gegen die Terroristen gekämpft.

Ich habe viele Terroristen unter die Erde gebracht. Und ich habe viele meiner Freunde beerdigen müssen. Ich frage dich, wie viel davon kann ein Mensch ertragen? Hast du schon einmal einen Menschen gesehen, dem die Augen mit einem Löffel ausgeschabt wurden? Hast du so etwas schon einmal gesehen? Ich schon. So einer Person stehst du gerade gegenüber. Wir sehen täglich Dinge, die bei euch nicht einmal in Ab-18-Filmen erlaubt sind. Ich danke dir, dass du hier bist. Aber Leute wie du aus Europa wissen überhaupt nichts. Was habt ihr mir schon zu sagen?

Wieso schießt Griechenland auf gewöhnliche Menschen? Es ist wie im Videospiel. Ratterratat. Tränengas den ganzen Tag. Im Irak haben sie uns gesagt, das Gas würde gegen internationales Recht verstoßen. Und hier ist es legal, damit auf Frauen und Kinder zu schießen? Selbst wenn wir auf die Toilette gehen, machen sie uns Probleme. Die einfachsten Dinge können wir nicht tun. Sie behandeln uns wie Tiere. Schlimmer als Tiere. In der Türkei haben sogar Hunde einen Ausweis. Aber was haben wir? Vor dreieinhalb Jahren bin ich in die Türkei gekommen. Ich dachte, bei uns im Irak wäre die Situation für uns Kurden schon schlimm, aber hier in der Türkei ist alles noch viel schlimmer. Wenn wir auf Arbeit sagen, dass wir Kurden sind, feuern sie uns.

Europa und die Türkei behandeln uns wie Tauschwaren. Wir sind verdammt. Ich bin kurdischer Christ. Für die Türken sind wir Ungläubige. Für Europa sind wir Terroristen. Dabei haben wir die Terroristen bekämpft. Und was haben wir von euch bekommen? Wir haben Schilder geschrieben, auf denen stand »wir sind Menschen«. Und selbst auf die habt ihr geschossen, als wären wir Tiere. Und nun regt ihr euch auf, weil wir Steine werfen? Sag mir: Was sollen wir sonst tun?

Ich habe immer davon geträumt, ein Soldat in Europa zu sein. Ich wollte immer gegen Terroristen kämpfen. Aber das werde ich nie tun können. Denn eure Kultur ist selbst terroristisch. Mein ganzes Leben lang habe ich für Freiheit gekämpft und was habe ich dafür bekommen? Wir alle hier kämpfen für Freiheit, aber wir werden sie niemals bekommen. Ich werde sie nicht bekommen und meine Kinder werden sie nicht bekommen.

Teil eins des Tagebuchs von Fabian Goldmann findet sich hier[1], Teil zwei hier[2].

Links:

  1. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1134140.tuerkisch-griechische-grenze-zerplatzende-traeume-zerplatzende-traenengasgranaten.html
  2. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1134197.flucht-und-migration-nach-europa-journalisten-die-auf-kreuzungen-starren.html