nd-aktuell.de / 25.03.2020 / Politik / Seite 6

Danteske Szenen

Alte Menschen in Spanien zum Sterben zurückgelassen

Ralf Streck, San Sebastian

Die Lage in Spanien wird zunehmend dantesk, vor allem im großen Coronavirus-Epizentrum Madrid. Immer öfter wird gemeldet, dass Menschen in Altersheimen vom Pflegepersonal zum Sterben zurückgelassen werden. Nach einem Fall vergangene Woche hat die Radiokette »Ser« am Montag berichtet, dass bei der Desinfektion in verschiedenen Heimen Tote entdeckt wurden. »Das Militär hat völlig verlassene alte Menschen vorgefunden, die zum Teil schon gestorben waren«, bestätigte Verteidigungsministerin Margarita Robles Berichte.

Das ist nur eine Seite des Horrors, den vor allem die Hauptstadtregion nun erlebt. Das Gesundheitssystem der Region kollabiert, wo alle fünf Minuten ein Mensch am Covid-19 stirbt. »Wir halten noch durch, aber es wird jeden Tag schlechter«, erklären überlastete Krankenhausbeschäftigte unter Tränen. Bilder zeigen Menschen auf Bettlaken gebettet im Flur im Krankenhaus Severo Ochoa im Stadtteil Leganés, Videos zeigen, wie Menschen sogar in überfüllten Fluren behandelt werden müssen.

In Madrid bereitet man sich schon auf die »Triage« vor, also auf die Entscheidung, wer noch behandelt wird und wer nicht. Die Gesellschaft für Intensivmedizin, Semicyuc, hat nun einen ethischen Leitfaden für die Entscheidungsfindung herausgegeben. Bevorzugt werden sollen die, die noch mehr gute Lebensjahre vor sich haben.

Offiziell sind allein in der Hauptstadtregion 12 352 Menschen infiziert, knapp 40 000 im ganzen Land. Dass Madrid schon 1535 von insgesamt 2696 Coronavirus-Toten im ganzen Land registriert, spricht eine andere Sprache. Das wäre eine Sterblichkeit von über zwölf Prozent, ein Vielfaches dessen, was das Virus real aufweist. Das liegt daran, dass wegen fehlender Tests kaum getestet wird. Die Dunkelziffer an Infizierten ist deshalb sehr hoch.

Dass sich die Lage gerade in Spanien besonders zuspitzt, liegt auch an fehlender Entdeckung und Isolierung von Infizierten. In Italien erreichte die Zahl der Toten am Samstag mit 793 ihren Höhepunkt und fiel am Montag auf 602; in Spanien waren am Samstag noch 324, aber am Dienstag schon 514. Am Mittwoch dürfte Spanien mehr Tote pro Tag verzeichnen als Italien. Die Kurven bei Infektionen und Toten sind hier schon jetzt deutlich steiler als in Italien.

Fehler haben die Entwicklung begünstigt, neben massiven Sparmaßnahmen nach der Finanzkrise 2008, der zehn Prozent der Krankenhausbetten zum Opfer fielen. Ausgewiesene Experten wie Oriol Mitjà hatten schon vor zehn Tagen drastische Maßnahmen gefordert. Lange bevor sich Italien dazu durchrang, nur noch eine Grundversorgung aufrecht zu erhalten, forderte Mitjà das schon für Spanien. Ihm haben sich in einem offenen Brief am Samstag 69 renommierte Epidemiologen, Molekularbiologen und andere Wissenschaftler angeschlossen. Auch sie halten eine »totale« Isolierung für unerlässlich, da sonst »um den 25. März herum« das gesamte Gesundheitssystems kollabiere.

Gehör finden sie bei der sozialdemokratischen Regierung nicht, die erst am vergangenen Samstag ein »Expertenteam« zur Beratung gegründet hat. Dass drei der sechs Experten die Pandemie bisher kleinredeten und behaupteten, eine »Epidemie der Angst« sei bedeutender »als die des Coronavirus«, spricht ebenfalls für sich.