nd-aktuell.de / 08.04.2020 / Politik / Seite 6

Selektive Amnestie

Türkische Regierung will wegen des Coronavirus rund 100 000 Gefangene freilassen

Svenja Huck

Es ist zu bezweifeln, dass von der aktuellen Debatte, Gefangene aufgrund von Covid-19 zu entlassen, auch politische Oppositionelle, Anwälte und Journalisten profitieren werden. Das aktuelle türkische Strafrecht erlaubt, dass Gefangene vorzeitig entlassen werden können, nachdem sie zwei Drittel ihrer Strafe verbüßt haben.

Der Gesetzesentwurf, der nun von Erdogans Partei AKP und der ultranationalistischen MHP vorgelegt wurde, sieht vor, dass diese Zeit auf die Hälfte des Strafmaßes reduziert werden könne. Vor allem Personen, die zu den Risikogruppen gehören oder vorerkrankt sind, sollen entlassen werden oder zumindest in den Hausarrest verlagert werden. Straftäter, die wegen »Terrorismus« verurteilt wurden, sind jedoch davon ausgenommen.

Nach dem gescheiterten Putschversuch im Juli 2016, für den die türkische Regierung die Gülen-Bewegung verantwortlich macht, wurden viele Tausende unter diesem Vorwurf verhaftet. Besonders hart traf dies die pro-kurdische Partei HDP, deren ehemalige Ko-Vorsitzende Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ seit November 2016 im Gefängnis sind, ebenso wie zahlreiche gewählte Bürgermeister*innen, Abgeordnete und Parteimitglieder.

Erst vor vier Monaten musste Demirtaş im Krankenhaus behandelt werden, nach dem er in seiner Zelle bewusstlos geworden war. Die Ärzte diagnostizierten eine Hypertonie, weshalb seine Anwälte nun seine sofortige Haftentlassung fordern. Auch Amnesty International veröffentlichte am 30. März einen Appell, in dem sie die Freilassung von Demirtaş sowie dem Journalisten Ahmet Altan und dem Bürgerrechtler Osman Kavala fordern. Beide sind älter als 60 Jahre und haben somit ein erhöhtes Risiko an Covid-19 zu erkranken. Dem Appell schlossen sich bisher 27 Organisationen für Menschenrechte und Pressefreiheit an.

Während politische Gegner der AKP trotz gesundheitlicher Probleme weiterhin in Haft bleiben sollen, dürfen wegen fahrlässiger Tötung Inhaftierte auf eine vorzeitige Entlassung hoffen. Wie die Zeitung »Cumhuriyet« recherchierte, würden sich dadurch Haftstrafen derjenigen verkürzen, die für den Tod mehrerer hundert Arbeiter verantwortlich sind, wie beispielsweise in der Mine von Soma. Dort waren im Mai 2014 über 300 Kumpel bei einem Grubenbrand gestorben, obwohl die Geschäftsleitung im Vorfeld mehrmals auf die mangelnde Sicherheit hingewiesen wurde.

Haftentlassung oder zumindest Strafminderung wird außerdem für einige der Polizisten erwartet, deren Angriffe auf die Aktivisten der Gezi-Proteste im Sommer 2013 zu mehreren Toten geführt hatten. Unter ihnen wäre der Polizist Ahmet Kuş, der zu 6 Jahren und 10 Monaten Haft verurteilt wurde wegen fahrlässiger Tötung des Aktivisten Abullah Cömert in Hatay. Kommentar Seite 4