nd-aktuell.de / 14.04.2020 / Brandenburg / Seite 8

Politische Schlange beim Bäcker bleibt ohne Strafe

Polizei verbietet in Potsdam eine Menschenkette pro Asyl - die Reaktion darauf ist kreativ

Andreas Fritsche

Lesen Sie weiter unten: Artikelupdate am 16. April - Keine Folgen für Demonstranten

Während der Coronakrise sollen nicht mehr als zwei Kunden gleichzeitig die Potsdamer Bäckerei Fahland in der Brandenburger Straße 43 betreten. Gegen Mittag ist das am Ostersonntag erst mal nicht der Rede wert, da sowieso nur hin und wieder ein Kunde die Filiale betritt. Das ändert sich um zwölf Uhr schlagartig. Eine Handvoll Leute stellt sich draußen in gebührendem Abstand voneinander an. Nach wenigen Minuten sind es bereits 92 und nach einer Viertelstunde sogar 132 - und es werden immer mehr. Die knapp 900 Meter lange Schlange aus rund 180 Personen reicht schließlich bis zum Luisenplatz.

Ein Streifenwagen fährt vorbei. Die Polizei weist per Lautsprecherdurchsage darauf hin, dies sei eine illegale Versammlung. Lutz Boede von der linksalternativen Wählergruppe »Die Andere« winkt ab: »Ich tue nichts Verbotenes. Ich kaufe nur Brötchen.«

Doch natürlich ist der Andrang kein Zufall. Eigentlich wollte die Initiative Seebrücke an diesem Tag eine Menschenkette vom Rathaus bis zum Landtag bilden, um für die Aufnahme von minderjährigen Flüchtlingen von den griechischen Inseln zu demonstrieren. Wegen der Ansteckungsgefahr sollten sich die Teilnehmer nicht bei den Händen fassen, sondern zwei Meter Abstand halten. Eine Reservierung der Stellplätze im Internet war organisiert, damit sich vor Ort keine Pulks bilden. Trotz dieser Vorsichtsmaßnahmen verbot die Polizei die Menschenkette unter Berufung auf die Corona-Eindämmungsverordnung, die Versammlungen untersagt.

Eine Klage gegen das Verbot wies das Verwaltungsgericht Potsdam ab. Da entstand kurzfristig die Idee, dass die verhinderten Demonstranten Brötchen kaufen, sich mit eilig gebastelten Schildern in eine Warteschlange einreihen könnten, die an eine Menschenkette erinnert. Was mit ein paar Telefonanrufen angekurbelt wurde, entwickelte sich durch Mundpropaganda viel besser als erwartet. »Wir haben mit 30 Leuten gerechnet und auf 50 gehofft, aber nicht auf so viele«, staunt Mika Gutmann. Sie nennt das, was hier geschieht, »politisch Schlangestehen für die Menschenrechte«. Normale Kunden werden vorgelassen. Auf den Pappschildern, die sich die Wartenden um den Hals hängten, steht etwa »Mundschutz ist kein Maulkorb, Widerstand trotz Krise« oder »Solidarität und sichere Häfen statt Polizeistaat und Festung Europa«.

»Es ist eine sehr intelligente Aktion«, lobt der Bundestagsabgeordnete Norbert Müller (Linke). Seiner Ansicht nach hätte die Menschenkette nicht untersagt werden müssen. Die Polizei hätte ja Auflagen erteilen können, zum Beispiel einen Sicherheitsabstand von fünf Metern und eine Obergrenze für die Demonstranten vorschreiben. Wären es zu viele geworden, hätten die zuletzt Gekommenen wieder gehen müssen. Sollte die Eindämmungsverordnung eine Menschenkette wirklich nicht zulassen, so müsste die rot-schwarz-grüne Landesregierung die Verordnung »anpassen«, findet Müller. Vorbeigekommen ist auch die Landtagsabgeordnete Marie Schäffer (Grüne). Sie hält dieses Schlangestehen auf Nachfrage für »legitim«. So sieht das auch die Landtagsabgeordnete Isabelle Vandré (Linke). Sie sagt: »Protest muss auch in Zeiten von Corona möglich sein.«

Gesprächsthema ist, dass ein Neonazi in einem Potsdamer Asylheim als Wachmann eingesetzt war. Die »Märkische Allgemeine« (MAZ) hatte darüber berichtet. Der Wachschützer wurde abgezogen. Sein Chef wies der MAZ gegenüber Vorwürfe zurück, selbst krude rechte Ansichten zu hegen. Die Kollegen jedoch kümmern sich engagiert und haben teils Migrationshintergrund. Darum will Mika Gutmann die Sicherheitsfirma nicht pauschal kritisieren.

Zwei- oder dreimal werden asylfreundliche Losungen skandiert. Ansonsten wird viel gelacht. »Wir wollen keine Brötchen kaufen, wir wollen die ganze Bäckerei«, scherzt ein junger Mann. Die originale antikapitalistische Parole aus den 1970er Jahren lautet: »Wir wollen kein Stück vom Kuchen, wir wollen die ganze Bäckerei.« Weit hinten hat sich die Landtagsabgeordnete Marlen Block (Linke) angestellt. Fürs erste hätte sie gern ein Stück Kuchen. Doch sie kommt nicht mehr dran. Um 12.35 Uhr skatet Mika Gutmann die Straße entlang und ruft: »Noch zehn Minuten, dann gehen wir nach Hause.« So geschieht es auch. »Zerstreut euch schnell, ehe die Polizei noch die Personalien aufnimmt«, rät jemand. In fünf Fällen soll das auch geschehen sein.

Es kursiert das Gerücht, Beamte hätten die Bäckerei geschlossen. Die Aktivisten sollen sich daraufhin einfach nur umgedreht und gesagt haben, sie stünden jetzt bei der anderen Filiale an, die sich ein Stück die Straße hinunter befindet. Das ist eine hübsche Geschichte, aber nicht wahr. Die Bäckerei sei die ganze Zeit geöffnet gewesen, versichern die beiden Verkäuferinnen. Die Polizei sei sehr nett gewesen - die überraschende Kundschaft auch!

Update 16. April: Keine Folgen für Demonstranten

Die als Warteschlange vor einer Bäckerei getarnte Menschenkette für die Aufnahme von Flüchtlingen am vergangenen Sonntag in Potsdam wird für die Teilnehmer keine strafrechtlichen oder sonstigen Konsequenzen haben. Das versicherte Brandenburgs Innenminister Michael Stübgen (CDU) am Donnerstagnachmittag in einer per Telefonkonferenz abgehaltenen Sitzung des Innenausschusses im Landtag. Am Sonntag hatten sich rund 180 Menschen eingefunden und mit großen Sicherheitsabständen und Mundschutz, darunter Abgeordnete der Linkspartei »angestellt«.

Zuvor war eine von der Initiative Seebrücke angemeldete Menschenkette vom Rathaus zum Landtag nicht erlaubt worden. Die Polizei habe sich das eine Weile – es waren 45 Minuten – angeschaut und die Versammlung dann aufgelöst, erklärte Stübgen. Da die Leute der Aufforderung, sich zu zerstreuen, nachgekommen seien, werde die Angelegenheit nur als Platzverweis gewertet.

Die Abgeordnete Andrea Johlige (Linke) hatte nachgefragt, was mit denjenigen geschieht, deren Personalien aufgenommen wurden. Von fünf Fällen war die Rede. Stübgen antwortete, davon stehe nichts im Polizeibericht. Aber selbst wenn Personalien aufgenommen worden sein sollten, werde es keine Strafverfolgung geben und auch keine Geldbußen wegen einer Ordnungswidrigkeit. Die Polizei verfolge in solchen Fällen weiterhin den Weg der Deeskalation.