Erwin Berner erzählt von Vergangenem so, wie nur er es kann. Dass nahe dem Verlagsgebäude des »Neuen Deutschland« zu DDR-Zeiten ein Schwulentreffpunkt war: Ich wusste es nicht. Aber zumindest war mir das Wort nicht fremd, seitdem sich ein guter Kollege mir gegenüber geoutet hatte. Vor Wochen noch hatte er mir erklärt, er lebe mit einem Freund zusammen, weil es praktischer wäre, Waschmaschine und Herd gemeinsam zu nutzen. Der »Schwulenparagraf« 175 war in der DDR schon 1968 aus dem Strafgesetzbuch gestrichen worden, in der BRD blieb er bis 1994. Aber Homosexualität war lange ein verschwiegenes Thema, noch immer von Heimlichkeit umgeben.
Erwin Berner hätte aus den hier geschilderten Episoden ein ganzes Buch machen können: über die »Lust im Dunkeln«, die misstrauisch strengen Polizisten, die nachts durch den Friedrichshain patrouillierten, das Gerede und das Schweigen in der Nachbarschaft, über Liebesglück und -leid. Aber das hätte bedeutet, etwas von sich abzutrennen, was selbstverständlich zu seinem Leben gehört. Dass diese Selbstverständlichkeit zu den Werten seines Buches gehört, womöglich ist ihm das selber gar nicht aufgefallen.
Er bleibt den ganzen Text über authentisch ganz bei sich. Obzwar Schauspieler (auch von Engagements ist die Rede), stellt er sich nicht auf eine imaginäre Bühne. Wenn wir sein Buch lesen, läuft er gleichsam ganz ruhig neben uns her, während wir zusammen durch den Berliner Stadtteil Friedrichshain flanieren. Er erzählt von Oma Schade und ihrer Hilfsbereitschaft, die sie aus Schlesien mitgebracht hatte, und von einigen anderen Leuten noch, die zu DDR-Zeiten zum Kiez gehörten. Wie hieß doch die Frau, die die herrenlosen Katzen fütterte? Hier stand eine Telefonzelle, sagt er, und wo heute das Restaurant »Anastasia« ist, war eine SERO-Annahmestelle, die »Sekundär-Rohstofferfassung«. Wenn er über Verschwundenes sinniert, entstehen gleichsam Schwarz-Weiß-Fotos vor dem inneren Auge, die sich gegen das vorherrschend Bunte behaupten wollen: »Erinnern zielt auf ein verlorenes Lebensgefühl.«
Der erste gemeinsame Sohn von Eva und Erwin Strittmatter, der früh schon Schauspieler werden wollte und um seiner Eigenständigkeit willen den Künstlernamen Berner annahm (die Urgroßmutter war eine geborene Berner gewesen), legt nun nach seinen »Erinnerungen an Schulzenhof« ein Buch vor, in dem die Eltern bestenfalls nebenbei vorkommen. Und doch fühlte ich mich in der detaillierten Art, wie er sein Umfeld beschreibt, an Eva Strittmatters Aufmerksamkeit für Gegenständliches erinnert, daran, wie Tisch, Stühle, Sofa, Kleidungsstücke und so weiter. alle ihre eigene Geschichte haben. Wie die Wände wann gestrichen wurden, liest man, und dass das Büroschränkchen ein Fehlkauf war. »Mutter kaufte weiße Wolldecken«, und er weiß auch wo. Dass diese Detailgenauigkeit zu Erwin Berners eigenem Stil wurde, hat wohl mit seinem Wunsch zu tun, etwas festzuhalten, das zu seiner Person gehört.
Das Buch ist ein Abgesang - auf eine Gegend, ein verschwundenes Land: »Die Sonne war damals besser.« Nostalgie? Das wäre zu einfach. Unehrlich wäre das der eigenen Jugend gegenüber, die eben leider unwiederbringlich ist.
Erwin Berner: Zu einer anderen Zeit, in einem anderen Land. Aufbau-Verlag. 253 S., geb., 18 €.
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/1135555.erwin-berner-die-sonne-war-damals-besser.html