Musik des Lebens, Musik des Todes

Italiener dürfen fast gar nicht mehr vor die Tür. Die Sehnsucht nach baldiger Rückkehr zur Normalität ist groß

  • Anna Maldini, Rom
  • Lesedauer: 7 Min.

Sandra Vicchi lebt in einem kleinen Ort vor den Toren von Bergamo, also mitten in der Gegend, die am stärksten von der Corona-Epidemie in Italien betroffen ist. Eigentlich arbeitet sie als Kindergärtnerin, aber seit fast zwei Monaten betreut sie lediglich ihre beiden sechs und vier Jahre alten Jungs. Ihr Lebensgefährte, ein Architekt in der Stadtverwaltung von Bergamo, hat nun schon seit über sechs Wochen sein Homeoffice im Schlafzimmer der Drei-Zimmer-Wohnung aufgeschlagen. »Wir haben einen Klapptisch aufgestellt«, erzählt Sandra. »Aber das ist ja inzwischen in vielen Familien so, und wir beklagen uns nicht, auch wenn es manchmal ziemlich eng wird.«

In Italien sind die Maßnahmen für die Eindämmung der Infektion sehr viel strenger als zum Beispiel in Deutschland. Man darf die Wohnung nur noch verlassen, um einzukaufen, zum Arzt oder in die Apotheke zu gehen. Basta. Lebensmittel muss man im »Umkreis« besorgen, wobei dieses Wort in den einzelnen Regionen unterschiedlich ausgelegt wird: Mal sind es 300, mal 500 Meter. Auch den Hund darf man nur in diesem Umkreis ausführen. Keine Spaziergänge im Park, kein Sport, nichts. Auf die Straße darf man zudem nur allein, in den Supermarkt auch. Außerdem sind in einigen Gegenden Schutzmasken und Handschuhe Pflicht, wobei aber beides gar nicht oder nur zu horrenden Preisen zu bekommen ist.

Sandra hält sich nicht immer an die strengen Regeln. »Direkt vor meiner Haustür liegt ein unbestelltes Feld. Jeden Tag gehe ich mit meinen Kindern mehrere Stunden dort spielen. Wir sind ganz alleine dort, aber so können sie sich wenigstens etwas austoben. Und danach ist minutenlanges Händewaschen angesagt ...« Allerdings fragt sich die 37-Jährige, wie lange vor allem Kinder diese Situation noch aushalten können, ohne Schaden zu nehmen. »Um meine beiden Jungs mache ich mir weniger Sorgen. Ich bin ja vom Fach und kann ihnen in vielem beistehen. Aber wenn ich da an einige meiner Kindergartenkinder denke, die in extrem beengten Verhältnissen aufwachsen und die niemanden haben, der sie wirklich fördern könnte, dann sehe ich auch für das kommende Schuljahr große Schwierigkeiten.«

Angst hat Sandra nicht - jedenfalls nicht für sich und ihre Familie. »Aber die Lage ist beklemmend. Ich habe mich furchtbar aufgeregt, als anderswo in Italien abends immer an den Fenstern gesungen und musiziert wurde. Genau um die Zeit fahren in meiner Straße immer die Militärfahrzuge vorbei, in denen die Leichen fortgebracht werden, die in Bergamo nicht mehr beerdigt werden können. Endlos lange Schlangen, manchmal mit Notlichtern und mit Sirenen. Das ist die Musik, die wir hier am Abend hören ...«

Mario Cervi aus Bologna hingegen findet die allabendlichen »Musikeinlagen« nett. Er ist 75 Jahre alt und wohnt mit seiner Frau, die seit einem Schlaganfall im letzten Jahr behindert ist, in einem großen Wohnblock. »Wir gehen dann immer ans Fenster und beobachten die Kinder auf den Balkons, wie sie nach der Musik tanzen. Wir sehen das Leben, und das stimmt uns heiter.«

Der Alltag ist für ihn und seine Frau jetzt besonders kompliziert geworden. »Laura braucht viele Medikamente, die zum Teil nicht so einfach zu bekommen sind. Also bin ich immer unterwegs: mal zum Arzt, mal zum Gesundheitsamt, mal in die Apotheke und natürlich in den Supermarkt. Und überall muss man anstehen, was für mich, ehrlich gesagt, anstrengend ist.« Seine Frau könne glücklicherweise mit dem Rollator wieder einigermaßen gehen. »Sie kauft jeden Tag Zeitungen. Das ist vielleicht wegen der Ansteckungsgefahr nicht gut, aber wenn sie sich nicht wenigstens etwas bewegt, kann man die monatelange Physiotherapie gleich vergessen.« Die vom Hausarzt verschriebenen Yogakurse finden zwar nicht statt, aber ihre Lehrerin verbindet sich dreimal die Woche mit dem Computer. »Dann macht meine Frau die Übungen vor der Kamera und wird dabei kontrolliert. Das sieht ex-trem komisch aus, und glücklicherweise können wir zusammen lachen.«

Alle paar Tage kommt Sohn Roberto vorbei und hilft bei der Körperpflege. Dafür musste er sich eine Sondergenehmigung ausstellen lassen. Ihn trifft der Lockdown besonders hart, da er erst vor wenigen Monaten mit einigen Freunden eine Kneipe eröffnet hatte. »Ich bezweifle sehr, dass wir uns von diesem Schlag wieder erholen können. Die Miete läuft weiter, andere laufende Kosten auch, und Geld werden wir vom Staat wohl keines erhalten«, schildert er seine Lage. »Unser Lokal ist klein und Abstand halten ist da nicht möglich - weder für die Gäste noch für uns. Ehrlich gesagt bin ich ziemlich verzweifelt, weil ich nicht weiß, wie es weitergehen soll.« Im Augenblick kocht er kleine Gerichte und verteilt sie an arme Menschen, vor allem Migranten, die sonst vielleicht verhungern würden. Eine Perspektive sei das natürlich nicht. »Wahrscheinlich werde ich demnächst wieder meinen Eltern, die beide eine kleine Rente bekommen, auf der Tasche liegen.«

Ganz besonders hart hat die Coronakrise Ludmilla aus Moldawien getroffen, die ihren Familiennamen nicht in der Zeitung sehen möchte. Sie lebt seit fast zwei Jahren in Rom - ohne Papiere. Sie ist von Schleusern ins Land gebracht worden, die ihr auch die Ausweise abgenommen haben. Zuhause hat sie zwei Kinder zurückgelassen, die nun bei ihrer Mutter leben.

Bisher hat die gelernte Altenpflegerin in Italien immer gearbeitet - als Kindermädchen, Putzfrau oder als Betreuerin für allein lebende ältere Menschen. Das Geld, das sie verdiente - zwischen 700 und 900 Euro pro Monat -, schickte sie immer nach Hause. Als der Lockdown beschlossen wurde, setzte ihre letzte Arbeitgeberin die 30-Jährige kurzerhand auf die Straße, weil sie Ärger befürchtete. Ludmilla ist bei einer italienischen Bekannten untergekommen. Dieses Zusammenleben hätte eigentlich nur ein paar Tage andauern sollen, aber nun sind es fast zwei Monate. Beide Frauen sind damit alles andere als glücklich. Ludmilla verdient kein Geld mehr und weiß nicht, wie es weitergehen soll - wenn sie ihre Kinder oder ihre Mutter am Telefon hört, weint sie danach stundenlang. Ihre unfreiwillige Gastgeberin, eine alleinstehende pensionierte Verkäuferin, kann die zweite Person im Haushalt finanziell kaum noch stemmen. »Ich muss mindestens doppelt so viel einkaufen, bezahle mehr für Strom und Gas, mache häufiger die Waschmaschine an. Mit meiner kleinen Rente ist das schwierig. Aber ich kann Ludmilla doch nicht auf die Straße setzen. Wo soll sie denn hin?«

Aber es gibt auch Menschen, die in der Krise zumindest privat sehr glücklich sind. Dazu gehört Italo Bondi. Der 50-Jährige lebt im süditalienischen Bari, ist Unternehmensberater und arbeitet für eine große Firma mit Hauptsitz in Mailand. Seit Jahren pendelt er zwischen Bari und Norditalien - am Montagmorgen nimmt er das erste Flugzeug und Donnerstag das letzte zurück. Seine Frau Gianna Cammeri wollte nicht in den Norden ziehen: Wenn sie die Meeresluft nicht riecht, werde sie krank, behauptet sie. Die beiden haben zwei Kinder, einen Jungen, der nächstes Jahr sein Abitur macht, und ein Mädchen, das gerade 13 geworden ist. »So lange waren wir wohl noch nie alle zusammen«, sagt Italo lachend. »Ich gehe jeden Morgen in mein Büro hier in Bari, arbeite von dort aus mit Handy und PC. Aber zum Mittagessen bin ich zuhause, und abends wird es auch kaum später als 19 Uhr. Für mich ist es das Paradies!« Zwar könne er mit den Kindern draußen nicht Fußball spielen, »aber dafür haben wir uns einen Pingpongtisch auf die Terrasse gestellt. Wir bekochen uns alle gegenseitig, sehen gemeinsam fern. Für uns ist das neu, früher hatten wir ja nur die Wochenenden«. Gianna ist nicht ganz so euphorisch wie ihr Mann; sie befürchtet, dass sie ihr Leben in der Wochenendehe nach der Coronakrise noch schwerer fallen könnte. »Aber jetzt ist es gut, so wie es ist. Nur weiß ich eben auch, dass alles irgendwann wieder beim Alten sein wird.«

Gianna, Italo und ihre Kinder sind die großen Ausnahmen im Italien der Ausgangssperre oder »Isolationshaft«, wie man es hier nennt. Den meisten anderen fällt im besten Fall »nur« die Decke auf den Kopf. In anderen Familien spielt auch häusliche Gewalt eine große Rolle, oder es wird vermehrt zum Alkohol gegriffen, um so wenigstens scheinbar aus der Enge zu fliehen. Bei wieder anderen überwiegt die Sorge vor dem »Danach«. Aber wirklich jeder sehnt sich nach fast zwei Monaten unendlich nach einem Spaziergang im Park oder am Meer - gerade jetzt, da im Corona-Land Italien der Frühling mit Macht eingezogen ist.

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