»Wir diskutieren Formen von Massenaktionen«

Kampf gegen Rassismus und staatliche Repression: Berlins radikale Linke bereitet sich auf den 1. Mai vor

  • Marie Frank
  • Lesedauer: 7 Min.

Sie haben einen Diskussionsaufruf gestartet, wie der Protest am 1. Mai in Zeiten von Corona aussehen kann. Was ist herausgekommen?

Da gibt es unterschiedliche Rückmeldungen, sowohl aus Berlin als auch bundesweit. Es gibt verschiedene Städte, beispielsweise Hannover oder Hamburg, wo etwas stattfinden soll, unterschiedlich und der Situation jeweils angepasst. Die Rückmeldungen waren überraschend positiv. Leute haben Ideen eingebracht und zum Ausdruck gebracht, dass für sie der 1. Mai total wichtig ist. Das zeigt die Relevanz des Datums wie auch der Frage, die aufgeworfen wurde: Wie kann man in diesen Zeiten demonstrieren, seine Anliegen auf die Straße bringen, und zwar nicht nur in individualisierter Form, sondern auch in einem kollektiven Rahmen?

Im Interview
Marco Lorenz ist Mitglied der Gruppe »Radikale Linke Berlin«, die Teil des »Revolutionären 1.- Mai-Bündnisses« ist. Über linksradikalen Protest am 1. Mai in Zeiten des Coronavirus und angesichts von Versammlungsverboten sprach mit ihm für das »neue deutschland« Marie Frank. Marco Lorenz war nicht bereit, sich für das »nd« fotografieren zu lassen. 

Und wie kann man das am besten?

Das beantworten die Städte unterschiedlich. In Berlin sind wir dabei, das noch zu diskutieren, und werden nächste Woche Montag Genaueres sagen. Da gibt es noch nichts Spruchreifes, aber wir diskutieren schon über Formen von Massenaktionen, bei denen aber die Ängste, die vorhanden sind, mitberücksichtigt werden, das heißt: wo auf Abstand und alles Weitere geachtet wird. Zusätzlich gibt es auch noch den Aufruf, dezentral, also in den Kiezen, Aktionen zu machen.

Was für Aktionen?

Kleinere Aktionen, größere Aktionen - was im Rahmen des Möglichen und Machbaren liegt. Dabei geht es um die typischen 1.-Mai-Themen: die Frage des Klassenkampfs, Krieg und Frieden, die Geschlechterfrage, die noch mal Bedeutung bekommt durch den Prozess gegen das anarchaqueerfeministische Hausprojekt Liebig34. Dazu wird es in der Walpurgisnacht auch eine Aktion in Friedrichshain geben. Vieles steht noch nicht richtig fest, was auch der Situation geschuldet ist. Es gibt eine Angst bei vielen Leuten, die aber meiner Beobachtung nach immer mehr abnimmt.

Ausfallen lassen ist für Sie also keine Option?

Es gab auch Stimmen, die gesagt haben, das kann man nicht machen, aber nicht in unserem Bündnis. Dort geht es eher um die Frage, wie man das gestalten kann. Was trauen wir uns zu? Wie ist die Stimmung bei den Genossinnen und Genossen, in unserem Umfeld und in der Gesellschaft? Was sind die Themen, die die Leute gerade interessieren? Und welche Repression wollen wir in Kauf nehmen?

Das heißt, es wird auf jeden Fall Aktionen auf der Straße geben, aber ob es eine Massendemonstration ist, steht noch nicht fest?

Also mit Masse wird es irgendwas sein, Demonstration ist eher unwahrscheinlich. Aber etwas geben wird es auf alle Fälle. Wir sind nicht der DGB, der in vorauseilendem Gehorsam alles absagt. Wir haben eine revolutionäre Perspektive, uns ist bewusst, dass das nur mit den Menschen funktionieren kann und dass das Digitale kein Ersatz für persönliche Kontakte ist.

Sie nehmen die Gefahr durch das Coronavirus also ernst? Es gibt ja auch Menschen, die Corona nur als Mittel sehen, um repressive Maßnahmen durchzusetzen.

Wenn wir beobachten, was in der Gesellschaft gerade passiert, ist es natürlich so, dass sich im Zuge von Corona der repressive Staat noch offener zu erkennen gibt. Dass Grundrechte nicht nur beschnitten, sondern ganz ausgesetzt werden. Aber ich denke nicht, dass jetzt so ein Virus in die Welt gesetzt wurde, damit das passiert. Es gibt eine Entwicklung, auf die springt der Staat auf und macht, was er kann. Nämlich repressiv dafür zu sorgen, dass die Verhältnisse, so wie sie sind, bestehen bleiben. Und wir wollen natürlich etwas anderes - und zwar, dass diese Verhältnisse in ihrer repressiven, ausbeuterischen und unterdrückerischen Form überwunden werden.

Wie denken Sie darüber, dass Demonstrationen zurzeit verboten werden? Sinnvoller Infektionsschutz oder pure Repression?

Natürlich ist das Repression, weil es eine generelle Aussetzung eines Grundrechts ist. Und wenn ein Grundrecht eingeschränkt wird, muss das begründet sein. Es kann nicht allgemein passieren, so wie es gerade der Fall ist. Deswegen hat das Bundesverfassungsgericht gesagt, dass generelle Demonstrationsverbote nicht rechtmäßig sind. Die Aufgabe der Linken in Deutschland ist immer auch, die Demokratie oder demokratische Rechte zu verteidigen und zu erkämpfen. Deswegen müssen wir uns da jetzt auch mit darum kümmern - obwohl das eigentlich die Aufgabe von liberalen und bürgerlichen Kräften ist, die zwar auch, aber doch nur in sehr geringem Maße Engagement zeigen. Unser Kampf zielt jedoch letztlich über die Demokratie hinaus, uns geht es darum, eine sozialistische Gesellschaft zu erstreiten.

Rechnen Sie denn mit einer großen Beteiligung? Die Polizei setzt das Versammlungsverbot ja momentan sehr rigoros durch.

Der 1. Mai war immer ein Kristallisationspunkt von Widersprüchen innerhalb der Gesellschaft. Die sind weiter da, die verschärfen sich durch so eine Krise noch. Ich denke schon, dass einige Tausend Leute auf die Straße gehen werden. Die Art der Krisenbewältigung - auf der einen Seite wird das Arbeitszeitschutzgesetz ausgehöhlt, auf der anderen Seite gibt es Kurzarbeit - führt dazu, dass die Ausbeutung weiter zunimmt, und das merken die Leute auch. Das ist nichts, was bereitwillig in Kauf genommen wird. Man muss natürlich gucken, wo es gerade eine Bereitwilligkeit gibt, Risiken einzugehen, denn in der aktuellen Situation ist die Gefahr von Repression ungleich höher als sonst.

Es gibt also genug Gründe, weiterhin zu protestieren. Was steht bei Ihnen in diesem Jahr im Fokus?

Ein großes Thema ist Rassismus. Auf der einen Seite die Abschottungspolitik, also der Rassismus, der durch die Festung Europa an den Außengrenzen produziert wird, durch die Flüchtlingslager in Griechenland, aber auch auf dem Balkan. Die andere Seite ist natürlich der Rassismus innerhalb der Bundesrepublik, Stichwort Hanau, aber auch Halle. Wir haben zum einen regressives Gedankengut und rassistische Ideologien, die sich immer mehr Bahn brechen, und zum anderen einen sich als stark gerierenden Staat, der die Grenzen dicht macht und den stets so hoch gehaltenen Humanismus genauso wie die Grundrechte über Bord wirft.

Was ist in Zeiten des Coronavirus die zentrale Aufgabe der radikalen Linken? Was kann sie überhaupt noch tun?

Ich glaube, es ist wichtig, etwas gegen die Angst zu machen, die allgegenwärtig ist. Formen von gegenseitiger Unterstützung, von sozialem Zusammenkommen, von Widerstand aufzuzeigen und zu organisieren, um sich in dieser Krise nicht kleinmachen zu lassen. Es gibt eine sehr große Angst, die sich durch viele Bereiche zieht und durch die die Gegenseite so durchregieren kann, und dass das alles mehr oder weniger widerspruchslos hingenommen wird. Es gibt trotzdem Widerspruch und in dieser Phase, die zu einer totalen Atomisierung geführt hat, ist es umso wichtiger, die Leute wieder zusammenzubringen und zu sagen: Lasst uns gemeinsam gegen die Maßnahmen, die beschlossen wurden, Widerstand organisieren! Denn das wissen wir aus Erfahrung: Wenn den Repressionsorganen erst einmal mehr Möglichkeiten gegeben werden, dann werden sie diese nicht kampflos wieder abgeben.

Sie befürchten also, dass die Maßnahmen bestehen bleiben?

Das hängt davon ab, wie sich der Widerstand dagegen organisiert, dass die Maßnahmen zurückgenommen werden müssen. Oder ob wir sogar in der Lage sind, aus so einer Krise heraus in eine Vorwärtsbewegung zu kommen. Beispiel Gesundheitssystem: Die Bundesregierung könnte jederzeit einen Mindestlohn in der Pflege einführen, könnte Tarifverträge für allgemeingültig erklären, Bedingungen aufstellen, wie Krankenhäuser organisiert sind und so weiter - aber es passiert nichts. Das heißt, es gibt überhaupt kein Interesse daran. Auf der einen Seite werden Millionen, Milliarden Euro locker gemacht, es wird eine Tracking-Corona-App lanciert, aber in den Bereichen, in denen es dringend notwenig wäre, etwas zu machen, passiert nichts. Das zeigt: Wenn es Veränderungen geben soll, müssen sie erkämpft werden.

Vielerorts sind in den letzten Woche ja alternative Protestformen entstanden. Ist die Krise also auch eine Chance, alte Handlungsformen zu überdenken und neue zu entwickeln?

Es gibt viel Inspiration, was an Neuem möglich ist, etwa wie man digitale Medien anders nutzt. Das Alte ist damit aber nicht obsolet geworden. Man muss das immer aus einem taktischen Verhältnis heraus sehen: Welches Ziel kann mit welchen Mitteln am besten erreicht werden?

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