Jetzt muss auch mal schlecht sein

sieben tage, sieben nächte über Beherrschbares, Unbeherrschteres und Jahresrückblicke mit Günther Jauch

  • Stephan Fischer
  • Lesedauer: 3 Min.

»Jetzt muss auch mal wieder gut sein«, meint die Nachbarin an der Tür und man beendet das Gespräch mit einem freundlichen »Bleibt gesund!«, ist innerlich gar nicht freundlich, weil man weiß, dass jetzt gleich noch der Grippevergleich gekommen wäre und die Nachbarin eine von jenen ist, die meint, dass die Corona-Regeln für sie nicht gelten.

»Jetzt muss auch mal wieder gut sein« - das soll entschlossen wirken und gleichzeitig umsichtig (»Die Wirtschaft hält das nicht mehr lange durch!«). Dabei hat es auch eine gewisse Ähnlichkeit mit der Pofalla’schen Erklärung 2013, die Krise um die Schnüffeleien der NSA sei nun beendet. Beiden Aussagen ist gemein, dass sie zu einem Zeitpunkt erfolgten, an dem weder etwas gut ist noch irgendetwas beendet, es im Gegenteil gerade erst losgeht. Und man meint, hinter der Forschheit der Aussage ein anderes Gefühl zu bemerken: Angst. Es ist nicht die Angst vor dem Virus, der möglicherweise verheerenden Wirkung einer zweiten Welle, den gerade erst bekannt werdenden Spätfolgen für Lunge oder sogar Gehirn - es muss sich auch nicht jeder in gleichem Maße mit Corona und Covid-19 beschäftigen. Es ist die Angst, die Beherrschung zu verlieren. Die Beherrschung des eigenen Lebens, der Umwelt, der Welt - ein Zustand, zu dem man schnellstmöglich zurückkehren möchte. Möglichst so schnell, dass Günther Jauch in seinem Jahresrückblick 2020 auch noch andere Themen neben Corona abhandeln kann.

Unwahrscheinlich - Corona dominiert das Geschehen, ist das Geschehen. Das Virus wirkt während der heraufziehenden Dürre, es wirkt, während um Tschernobyl am 34. Jahrestag des GAU am 26. April radioaktive Wälder brennen - noch so ein beherrschbares Risiko. Bis es nicht mehr beherrschbar ist.

Wenn überhaupt wieder etwas gut werden soll - und das wäre ein anderes »Gut« als vorher -, dann muss es jetzt auch mal schlecht sein. Das ist kein Wunsch nach längeren Einschränkungen, das ist die Anerkenntnis der Situation. Klima und Corona: Ein »Weiter wie vorher« oder »Wieder so wie früher« führt höchstwahrscheinlich in katastrophale Situationen. »Corona ist eine Katastrophe für die Wirtschaft« - vielleicht ist aber diese Wirtschaft samt Wachstumszwang die Katastrophe, wenn Corona uns so hart treffen kann?

In Prag bricht AirbnB zusammen, die Prager können plötzlich wieder Wohnungen im Zentrum zu bezahlbaren Kosten mieten; der Flugverkehr nimmt rapide ab. Ist das jetzt die Katastrophe? Oder wären das mit einer anderen ökonomischen Orientierung nicht gute Nachrichten? Ohne Zwang zu fortwährend steigenden Renditen schon. Aber warum ist das, was bei einer Pandemie das große Problem darstellt, in der Wirtschaft das Ziel? Ab einem bestimmten Punkt sind die Folgen von Wachstum nämlich bei beiden gleich: ziemlich unbeherrschbar.

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