nd-aktuell.de / 28.04.2020 / Kultur / Seite 14

All work and no play

Kampfstern Corona (Teil 14): Im Kapitalismus gelten alle Beziehungen nur, solange sie der Arbeit nicht in die Quere kommen

Jasper Nicolaisen

Mein Job, neben meiner Tätigkeit als freier Autor, ist Frühkindpädagoge, wie man heute sagt, ich selbst bevorzuge »Kindergärtner« oder »Tante«.

Seit Lockerung in der Luft liegt, mehren sich die Elternstimmen, die gerne wieder zurückwollen: in die Notbetreuung, in die erweiterte Notbetreuung, in Kleingruppen, ach was, zum gewohnten Kita-Betrieb. Ich trete niemandem zunahe, wenn ich feststelle, dass die Begriffe »Selbstauskunft«, »besondere Belastung«, »alleinerziehend« und »Krankenschwester« dabei Bedeutungsöffnungsorgien unterworfen werden, die ich sonst nur aus meinem anderen Beruf kenne, dem des freien Autors. Verdenken kann ich diese kleinen Wahrheitsbeugungen niemandem. Immerhin sitze ich in meinem weiteren Beruf - gemeint ist die Familienarbeit - mit einem Ehemann und zwei Kindern zuhause und bin froh, dass ich in diesem Moment noch ganze Sätze tippe und nicht - wie in Stanley Kubricks Horrorfilm »The Shining« - wie Jack Nicholson im Overlook-Hotel manisch »All work and no play«. Womit wir schon beim Thema wären: Arbeit.

Kitaöffnungen zum jetzigen Zeitpunkt dienen nicht dem Kindeswohl, sondern dem Arbeitsfetisch. Kinder, auch im Vorschulalter, kennen keine Hygienebestimmungen und keine Abstandsregeln. Das wäre für das soziale und spielerische Lernen, wie es in der Frühpädagogik stattfindet, auch tödlich. Wir Tanten können auch keine Masken tragen oder darauf verzichten, Kinder zu berühren. Das sind Vorschläge von Politikern, die ihre Kinder zum letzten Mal mit Sanostol sediert unter dem Weihnachtsbaum gesehen haben.

Und was die Eltern zu Hause irre macht, sind nicht die Kinder an sich, die sie in der Regel ja doch irgendwie lieben, wenn sie auch, wie alle Menschen, natürlich enorm nerven können. Was die Situation unerträglich macht, ist der Arbeitszwang. Sich um Kinder kümmern zu müssen, während auf dem Küchentisch das Büro entsteht, während die Kollegen unter virtuellen Palmen aus der Zoom-Konferenz ins Wohnzimmer lugen oder während ganz einfach der Zeitungsartikel, die Konstruktionszeichnung, die Präsentation oder die Bachelorarbeit fertig werden soll.

Mit der Arbeit aufzuhören - das kommt aber natürlich als letztes in Frage. Und das ist nicht die Schuld der arbeitenden und sich in die Kita motzenden, drängelnden und schummelnden Eltern. Sie müssen ja Geld verdienen - und noch mehr: Sie sind auf die Arbeit als Raum für Wertschätzung und Begegnung, als Gradmesser für Erfolg und Sinnstiftung angewiesen.

All das ist Arbeit im Kapitalismus, und andere Beziehungen gelten nur, solange sie der Arbeit nicht in die Quere kommen. Nichts wird in der Pandemie deutlicher. Gearbeitet muss werden, um fast jeden Preis. Fast alles darf anders werden, nur die Arbeit darf nicht aufhören. Oberstes Ziel ist es, möglichst schnell wieder zu einem Zustand zurückzukehren, in dem Arbeit nicht mehr nur das halbe Leben ist.

Dabei ginge es auch anders. Die Journalistin Jacinta Nandi hat es in einem englischsprachigen Beitrag für das Berliner Stadtmagazin »Exberliner« formuliert. 1000 Euro Unterstützung im Monat für Eltern, Kündigungsverbot für ein Jahr, Schutz vor Wohnungsverlust, kleine Lockerungen der Kontaktsperre für Familien, so dass Treffen mit anderen Kindern und zeitweise Babysitting erlaubt sind. Das wäre der Rahmen, in dem Eltern die Arbeit weit hintenan stellen könnten. Und das ist undenkbar. Nicht nur sind Kapitalinteressen davon bedroht - diese Interessen durchdringen so sehr unser aller Leben, dass sie uns auch als eigene Wünsche entgegentreten.

Als Wunsch nach Zusammensein mit anderen Erwachsenen, dem Wunsch, sich kompetent und handlungsmächtig zu erleben, dem Wunsch nach Anerkennung und Fortkommen, dem Wunsch nach Freiheit. Die Freiheit, die im Kapitalismus zu haben ist, weil eine andere kaum in Sicht ist und schon gar nicht unter den Bedingungen eines Ausnahmezustandes erprobt werden darf. All work and no play makes capitalism a dull boy.