nd-aktuell.de / 29.04.2020 / Kommentare

Die Corona-Krise als Schockzustand

Für Victor Perli ist in den kommenden Jahren die Frage entscheidend: Wer bezahlt die Krise?

Victor Perli

Politik bedeutet ein »starkes langsames Bohren von harten Brettern«, meinte einst der Soziologe Max Weber. Manchmal überschlagen sich die Ereignisse aber und werfen Grundsätzliches über den Haufen. Ein aktuelles Lehrstück ist die Debatte um die sogenannte Schuldenbremse. Sie hat in Deutschland seit 2009 Verfassungsrang und verbietet Bund und Ländern die Kreditaufnahme für die Finanzierung öffentlicher Investitionen und des Gemeinwesens.

Die Linke hat der Einführung der sogenannten Schuldenbremse auf Bundes- und Landesebene als einzige Partei widersprochen und war mit Gewerkschaften, einzelnen Sozialverbänden und einer Minderheit der Ökonomen in der Defensive. Aber der Wind hat sich gedreht. Eine von DGB und BDI (sic!) in Auftrag gegebene Studie ermittelte jüngst einen Investitionsstau in Höhe von 457 Milliarden Euro. Diese Summe, die fast 100 Milliarden Euro höher ist, als der Bund in einem Jahr ausgibt, ist das Ergebnis der mit der ‚Schwarzen Null‘ verbundenen Kaputtsparpolitik. Gewerkschaft und Industrieverband fordern vom Bund in den nächsten zehn Jahren kreditfinanzierte Investitionen in die kommunale Infrastruktur, in bezahlbares Wohnen, Bildung, Digitalisierung, in die Bahn und den ÖPNV (»Verkehrswende«) sowie für eine CO2-neutrale Wirtschaft. Damit stellen sie die Schuldenbremse infrage.

Im März fand im Bundestag eine öffentliche Anhörung des Haushaltsausschusses statt, bei der Sachverständige über Anträge der Linksfraktion für eine Investitionsoffensive, für die Abschaffung der »Schuldenbremse« und die Einführung einer staatlichen Investitionspflicht diskutierten. Die parlamentarischen Befürworter der »Schwarzen Null« befanden sich erstmals in der Defensive. Ein relevanter Teil der Ökonomen wollte die »Schuldenbremse« im Grundgesetz zumindest entschärfen. Was für Union, SPD, AfD, FDP und Grüne zu diesem Zeitpunkt aber noch undenkbar war, passierte nur drei Wochen später: Die Mehrheit der Bundestagsabgeordneten beschloss, die Schuldenbremse auszusetzen. Nur so konnten 156 Milliarden Euro zur Bekämpfung der Auswirkungen der Corona-Pandemie bewilligt werden.

Hat sich die Linke also durchgesetzt? Noch nicht. Ein Aussetzen der Schuldenbremse durch den Bundestag ist in Krisenzeiten im Rahmen der geltenden Regeln möglich. Die neuen Schulden müssen durch einen Tilgungsplan in einem »angemessenen« Zeitraum wieder zurückgeführt werden. Das Parlament hat beschlossen, dass 100 Milliarden Euro ab 2023 innerhalb von 20 Jahren zurückgeführt werden müssen, also fünf Milliarden Euro pro Jahr. Fünf Milliarden, die dann für andere Ausgaben fehlen werden. Und spätestens dann stellt sich die Frage, wo wird gekürzt und wo nicht? Mit anderen Worten: Wer bezahlt die Krise?

Die Beantwortung dieser Frage ist eine zentrale Aufgabe für uns alle. Es gilt zu verhindern, dass – wie bei der letzten Finanzkrise ab 2008 – die Konzerne, großen Vermögen, Immobilien- und Aktienspekulanten geschützt werden. Die letzte Krise wurde de facto bezahlt durch eine (weiter) kaputtgesparte öffentliche Infrastruktur und durch Löhne, Renten und Sozialleistungen, die inflationsbereinigt bestenfalls stagnierten. Alle Vermögenserhebungen und Sozialstatistiken (Oxfam, Paritätischer Wohlfahrtsverband etc.) belegen, dass der allergrößte Teil des Wirtschaftswachstums der vergangenen Jahrzehnte – und beschleunigt in den letzten Jahren – bei den Superreichen gelandet ist und die Schere zwischen Arm und Reich größer geworden ist. Es braucht nun eine Finanzierung der Krisenkosten für die im Grundgesetz (Artikel 106) vorgesehene Möglichkeit einer einmaligen Vermögensabgabe zu Lasten von Milliardären und Multimillionären. Dafür muss jetzt maximaler gesellschaftlicher Druck aufgebaut werden.

Ein weiteres Konfliktfeld entsteht bei der Verwendung der Steuermittel für die staatlichen Hilfsmaßnahmen zur Wirtschaftsstabilisierung. [1][externer Link] Drei von vier börsennotierten Unternehmen wollen an Dividenden festhalten, auch wenn sie ihre Beschäftigten in die öffentlich finanzierte Kurzarbeit schicken. Nach Geld vom Steuerzahler rufen und zugleich Milliarden an die Aktionäre ausschütten – das darf nicht erlaubt sein! Gleiches gilt für Aktienrückkäufe, Managerboni oder andere Sondervergütungen. Das wäre nichts anderes als eine direkte Umverteilung von unten nach oben. Anstatt die Gewinne zu privatisieren und Verluste der öffentlichen Hand zu überlassen, muss mit den staatlichen Mitteln Einfluss auf den sozialökologischen Umbau der Wirtschaft genommen werden. Schlüsselbereiche der öffentlichen Versorgung wie Krankenhäuser, das Gesundheitssystem, Wohnen und Bildung müssen dem Markt entzogen werden. Sie gehören nicht in die Hände profitorientierter Investoren – auch das muss eine Konsequenz aus der Krise sein. Wenn jetzt sogar die Union jeden Tag diejenigen lobt, die »den Laden am Laufen halten«, dann ist das nicht zuletzt die Furcht davor, dass all die Verkäuferinnen, LKW-Fahrer und Pflegekräfte sich am Ende der Krise fragen, warum sie für die Krise bezahlen sollen.

Die Geschichte zeigt, dass auf Krisen häufig große gesellschaftliche Veränderungen folgen. Für Milton Friedman, den marktradikalen Vordenker des »freien Marktes«, sind Krisen richtige Zeitpunkt für Schockbehandlungen mit dem Ziel die öffentliche Sphäre zu beseitigen, Wirtschaft zu deregulieren und Sozialausgaben zu senken. »Nur eine Krise (…) führt zu echtem Wandel. Wenn es zu einer solchen Krise kommt, hängt das weitere Vorgehen von den Ideen ab, die im Umlauf sind. Wenn die Krise erst einmal da ist, kommt es vor allem darauf an, der krisengeschüttelten Gesellschaft rasche und unumkehrbare Veränderungen aufzuzwingen; eine neue Regierung hat dazu ungefähr sechs bis neun Monate Zeit.« Dann geben »schockierte Gesellschaften oft Dinge auf, die sie ansonsten vehement verteidigen würden«, warnte Naomi Klein in ihrem Buch »Die Schock-Strategie« . Beispielsweise werden sozialstaatliche Errungenschaften, Arbeitsschutzstandards, Grund- und Freiheitsrechte infrage gestellt.

Es braucht aber einen anderen Wandel. Einen, der der großen Mehrheit zugutekommt. Denn die Corona-Pandemie und ihre Folgen treffen die Arbeiterklasse, große Teile der Mittelschichten, Länder ohne oder mit schwachen öffentlichen Gesundheits- und Sozialsystemen viel härter als die globalen Oberschichten. Der Ruf nach Gerechtigkeit und demokratischem Sozialismus wird wieder lauter. Auch in Basisbewegungen und linken Parteien. Es ist unsere Aufgabe, diese Entwicklung mit voranzubringen und visionäre Forderungen praxistauglich zu machen. Die humane Antwort auf die aktuelle Krise, auch auf die soziale und ökologische, ist die Feststellung, dass der Marktradikalismus gescheitert ist. Es gilt jetzt Demokratie und Sozialstaat auszubauen, politisch in die Wirtschaft zu intervenieren, extremen Reichtum umzuverteilen und die globalen Handelsbeziehungen gerecht zu regulieren.

Links:

  1. https://jacobin.de/artikel/branchen-corona-arbeitnehmer-kurzarbeit-unternehmen/