nd-aktuell.de / 11.05.2020 / Politik / Seite 3

Keine Befreiung von den Wunden

Das Ende des Zweiten Weltkriegs wird in Polen und dem Baltikum zwiespältig betrachtet

Stephan Fischer

Die Objekte des Gedenkens und des Streits sind an den allermeisten Orten Polens und des Baltikums aus der Öffentlichkeit weitgehend verschwunden: T-34-Panzer auf Sockeln, Statuen, Darstellungen von Rotarmisten. Denkmäler für gefallene sowjetische Soldaten, Denkmäler für die Befreiung von der deutschen Besatzung 1944/45. Denn um die Deutung, was die Niederlage Nazideutschlands am Ende des Zweiten Weltkriegs für Ostmitteleuropa brachte, wird bis heute heftig gerungen. Und zwar nicht nur in Historikerkreisen, wie nicht zuletzt die Kontroverse zwischen Polen und Russland Anfang des Jahres zeigte:[1] Es ging um Kriegsschuld und darum, welches Staatsoberhaupt beim Gedenken der Befreiung des deutschen Vernichtungslagers Auschwitz in Jerusalem sprechen durfte - Wladimir Putin durfte, Andrzej Duda nicht. In Auschwitz selbst, dem heutigen polnischen Oświęcim war wiederum Putin nicht eingeladen.

Was den Zivilisationsbruch und den verbrecherischen Charakter des Naziregimes und seiner Massenvernichtungstheorien und –praktiken angeht, besteht kein Dissens. Grundlegende Streitpunkte zwischen Russland als Rechtsnachfolger der Sowjetunion und den heute souveränen Staaten Polen, Litauen, Lettland und Estland bestehen in der Frage, wie die Folgen des Zweiten Weltkrieges zu bewerten sind – und damit auch um die Benennung dessen, was 1945 passierte. Eine mögliche Annäherung an dieses hochkomplexe historische, aber bis heute mit seinen Detonationen immer wieder für Erschütterungen sorgende Minenfeld kann der Blick auf die Selbstwahrnehmung als politisches Subjekt oder Objekt bieten.

Erleichterung und Angst

ndPodcast zum 8. Mai - Von Tim Zülch

Als am 9. Mai 1945 der Zweite Weltkrieg zumindest in Europa zu Ende war, gab es fast überall im befreiten Westeuropa Jubelfeiern. In Polen mischten sich in die Erleichterung viele Ängste – die Zukunft war absolut ungewiss. Dass die Befreier aus dem Osten kamen, machte es für viele zu einem »bitteren Sieg«. Denn es war zwar ein Sieg, aber es war keine Selbstbefreiung, die immer eines der Hauptziele des polnischen Widerstands war. Der Warschauer Aufstand der Heimatarmee war Anfang Oktober 1944 nach 63 Tagen von den deutschen Okkupanten mit unvorstellbaren Massakern niedergeschlagen worden – sowjetische Truppen standen nicht weit vom östlichen Ufer der Weichsel. Polen war als erster Staat von Hitler-Deutschland überfallen worden, hatte einen eigenen Untergrundstaat aufgebaut und eine Exilregierung in London, polnische Soldaten kämpften an vielen Fronten gegen die Achsenmächte.

Und doch war Polen zum Ende des Zweiten Weltkrieges wieder in die Rolle gedrängt, die seit den Polnischen Teilungen – unter maßgeblicher Beteiligung des zaristischen Russlands – bis heute ein polnischer Albtraum ist: Es wurde zum Objekt der internationalen Politik degradiert. Die Westalliierten hatten die Frage der polnischen Souveränität, und auch die der bis 1940 unabhängigen baltischen Staaten, in Stalins Hände gelegt. Und jener hatte nicht vor, die vier Staaten in unabhängiger Vorkriegsform wieder erstehen zu lassen.

Ende des Krieges - aber nicht der Gewalt

Im Baltikum und in Polen war der 8./9. Mai eine andere Zäsur als in Westeuropa oder auch in Deutschland. In Ostmitteleuropa war zwar ebenfalls der Krieg vorbei, nicht aber die Gewalt. Das Jahr 1945 wirkte über Jahrzehnte fort. Mit der Roten Armee war auch der Geheimdienst NKWD gekommen. Die polnische Heimatarmee wurde, wo es ging, entwaffnet, Führungskräfte wurden nach Moskau gebracht und ermordet. Nach sechs Jahren Nazi-Terrorherrschaft mit Millionen Opfern war die polnische Gesellschaft paralysiert und atomisiert. Massen schoben sich von Ost nach West – Lwów (das heutige Lwiw in der Ukraine) und Wilno (Vilnius in Litauen, über die Jahrhunderte abwechselnd in russischer, polnischer und deutscher Hand und kurz auch unabhängig) waren durch die Westverschiebung für immer verloren, Städte wie Breslau und Stettin schwer zerstört und es sollte noch lange dauern, bis sie mental als »polnische Städte« Wrocław und Szczecin angenommen wurden. Einen Weg »zurück zur Normalität« gab es nicht.

Auch das Verhältnis zwischen Polen und der Roten Armee verschlechterte sich schnell Polnische Tagebücher zeugen von Plünderungen, Raub und Schlimmerem. »Jak nie urok, to przemarsz wojsk« (»Nicht nur ein Fluch, auch noch ein Truppendurchmarsch oben drauf«) – dieses polnische Sprichwort trifft vor allem auf den Rückmarsch der sowjetischen Truppen in Richtung Osten zu. Selbst ein führender Parteikader wie Władysław Gomułka im Dezember 1945 auf dem Parteitag der Polnischen Arbeiterpartei nicht daran vorbeikam: »An Exzessen beteiligte, marodierende Soldaten gibt es in jeder Armee. Also ist auch die Rote Armee von solchen Soldaten nicht frei …«

Trotz allem keine Illusionen

Trotz all dieser und anderer historischer Verletzungen zwischen beiden Ländern, von denen manche erst um 1989 herum zugegeben worden sind – das geheime Zusatzprotokoll zum Molotow-Ribbentrop-Pakt, das die Aufteilung Polens und des Baltikums zwischen Nazideutschland und der Sowjetunion im August 1939 regelte; das Massaker von Katyn 1940; die massenhafte Deportation von Esten, Letten, Litauern und Polen nach Sibirien: Zunächst war auch viel Dankbarkeit. Denn der »deutschen Pest« zogen die Polen die »sowjetische Grippe« allemal vor, so schwer sie auch sein mochte. Denn über das Ziel der deutschen Besetzung machte sich nach sechs Jahren niemand mehr eine Illusion: die biologische und kulturelle Vernichtung Polens und seiner Bewohner.

Anders als in Deutschland erfolgte sowohl in Polen als auch im Baltikum um 1989 eine Rückbesinnung auf die nach dem Ersten Weltkrieg schwer errungene Unabhängigkeit der Zwischenkriegszeit: Diese Unabhängigkeit ging 1939/40 eben auch an die Sowjetunion verloren. Die Herauslösung der drei baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen aus der Sowjetunion 1989 bis 1991 ging nicht ohne Gewalt und Tote vonstatten. Von daher mag es verständlich sein, wenn dort die Monumente des Sieges der Roten Armee in diesen Staaten auch als Symbole der Besetzung, der Unfreiheit betrachtet werden.

Die Geschichte Ostmitteleuropas bis 1989 ist im Verhältnis zwischen Polen und den baltischen Staaten auf der einen und Russland auf der anderen Seite selbst zum Objekt des Streits und der daraus resultierenden Identitätsbildung geworden. Dabei malen vor allem rechtskonservative Regierungen der vier Staaten ein Schwarz-Weiß-Bild – das dann von Russland in Kontrastfarben genauso kräftig übertüncht wird.

»Dekommunisierungsgesetz« in Polen

Im September 2017 unterschrieb Polens Präsident Andrzej Duda das »Gesetz zum Verbot von Propaganda für den Kommunismus oder andere totalitäre Systeme durch Bezeichnungen von Bauwerken, Objekten und öffentlichen Versorgungseinrichtungen«, kürzer auch »Dekommunisierungsgesetz« genannt. In der Folge wurden Denkmäler abgerissen oder abgebaut und an anderen, weniger sichtbaren Orten aufgestellt; hunderte Straßen umbenannt. Und auch eine Tafel am Geburtshaus von Rosa Luxemburg in Zamość – im Geburtsjahr 1871 Teil von »Kongresspolen« unter zaristischer Herrschaft - wurde entfernt.

Manche Denkmäler waren aber auch Orte, an denen Gebeine von Sowjetsoldaten liegen konnten. Der russische Botschafter in Polen, Sergej Andrejew nannte dies eine »Beleidigung für unser Volk«. Die Gleichsetzung totalitärer Regimes auf der einen Seite, das Beziehen der »Dekommunisierung« auf das ganze russische Volk auf der anderen Seite – beide Seiten befeuern den Streit und den Konflikt bis heute.

Wie auch im Baltikum ein ganz besonderer Denkmalstreit nicht vergessen ist. Im Februar 2007 beschloss das estnische Parlament in Tallinn das sogenannte Gesetz gegen verbotene Denkmäler. Infolgedessen wurde das 1947 enthüllte Denkmal der Befreier Tallinns, der »Bronzene Soldat«, aus dem Stadtzentrum entfernt. Dieses Denkmal war am 9. Mai und am 22. September (Tag der Befreiung Tallins) Treffpunkt der russischen Minderheit: für sie ein Symbol des Sieges über den Hitlerfaschismus, für viele Esten ein Symbol von Besetzung und Unterdrückung bis 1991. Es kam zu Protesten und Demonstrationen, Russland beschränkte den Handel mit und über Estland, im Nachhinein häuften sich Cyberattacken auf estnische Behörden und Institutionen. Russland wies alle Verantwortung von sich, aber die Indizien wiesen klar auf Russland als Ursprung der Attacken hin. Der Schaden für Estlands Wirtschaft war durchaus messbar. Bis heute werden baltische SS-Soldaten von vielen immer noch vor allem als »Kämpfer für die Freiheit« geehrt und nicht als Angehörige einer der mörderischsten und verbrecherischsten Organisationen der Menschheitsgeschichte betrachtet.

Die historischen Verbindungen, vor allem aber die Verletzungen machen es den Beteiligten schwer, aus dem Streit um sichtbare Manifestationen der Geschichte und ihrer Interpretation auszusteigen. Der Streit um Denkmäler ist dabei sowohl Ausflucht als auch Sackgasse für das Denken nach vorne in den Beziehungen zwischen dem heutigen Russland und jenen Staaten, die vor 1989 im sowjetischen Machtbereich lagen.

Links:

  1. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1131410.geschichtspolitik-der-immer-schwerere-rucksack.html