nd-aktuell.de / 08.05.2020 / Politik / Seite 3

Unvorstellbare Opfer

Moritz Mebel über das Kleinreden der Verdienste der Roten Armee im Zweiten Weltkrieg

Jana Frielinghaus

Moritz Mebel wurde 1923 in Erfurt als Kind jüdischer Eltern geboren. Seine Mutter war Mitglied der KPD und emigrierte mit ihm und seiner Schwester schon 1932 in die Sowjetunion. Im Oktober 1941 meldete sich der damals 18-jährige Medizinstudent in Moskau freiwillig zum Militärdienst und kämpfte bis zum Kriegsende in der Roten Armee gegen die Nazis. In der DDR baute Mebel das Nierentransplantationswesen auf und war von 1966 bis 1988 Professor für Urologie an der Berliner Charité. Jana Frielinghaus sprach mit ihm über seine Kriegserlebnisse und über geschichtspolitische Auseinandersetzungen der Gegenwart.

Sie haben als Rotarmist dreieinhalb Jahre gegen die Wehrmacht gekämpft, waren also direkt an der Niederschlagung des deutschen Faschismus beteiligt. Ein Grund stolz zu sein …

Ich habe viel erlebt - aber so wichtig bin ich nicht. Ich bin ein Überlebender. Von den 180 Angehörigen meiner Kompanie sind drei am Leben geblieben, und ich war einer davon. Ich hatte also vor allem Glück. Zum Beispiel, als wir in der Ukraine die Nazis zurückdrängten. Da lag ich in einem Haus neben einem anderen Soldaten. Das Haus wurde beschossen, und es platzte eine Granate, und der neben mir lag, war tot, und ich unversehrt.

Ich habe in der Politabteilung gearbeitet, die verantwortlich war für die Aufklärung in den Reihen der Wehrmacht, mit Flugblättern, Radioübertragung und an vorderster Front per Lautsprecherwagen. Bei diesen Wagen war der Lautsprecher hinten angebracht, sodass man erst umdrehen musste, damit die gegnerischen Soldaten unsere Aufrufe hören konnten. Deshalb war man fast ungeschützt gegenüber dem feindlichen Feuer. Eines Tages bekam ich plötzlich hohes Fieber und Schüttelfrost, sodass ich nicht mit dem Laster zur Übertragung unserer Appelle fahren konnte. Da ist ein Genosse gefahren, und während sie übertragen haben, ist eine Granate an dem Fahrzeug eingeschlagen, und er war tot.

ndPodcast zum 8. Mai - Von Tim Zülch

Wie haben Sie den Tag der Kapitulation der Wehrmacht erlebt?

Am Tag der Befreiung war ich im heutigen Tschechien, etwa 50 Kilometer östlich von Brno. Wir wussten, dass Hitler-Deutschland bedingungslos kapituliert hat und dass es den Befehl gab, alle Waffen niederzulegen und keine Kampfhandlungen mehr zu führen. Aber vor uns lag die 6. Armee der Wehrmacht, die von Generalfeldmarschall Ferdinand Schörner kommandiert wurde. Dieser Verbrecher hat seinen Soldaten befohlen weiterzukämpfen. Das taten sie noch drei Tage lang, und es gab also noch weiter Tote auf beiden Seiten. Schörner selbst hat sich ins Flugzeug gesetzt und ist in Richtung Österreich davongeflogen.

Wegen der anhaltenden Gefechte konnten wir erst einmal nicht feiern. Wir haben sofort Flugblätter aufgesetzt und gedruckt. Ich habe sie dann der Luftstaffel gebracht, die sie über den Stellungen der Deutschen abwerfen sollte. Dort begrüßte mich der Kommandeur und küsste mich, wir haben zusammen einen Wodka getrunken, und das war’s. Die Feier haben wir nachgeholt.

Für Sie ging der Krieg nach Ende der Kampfhandlungen in Tschechien noch weiter.

Ja, die 53. Armee, der ich angehörte, wurde im Juni in Richtung Mongolei abkommandiert, wir sollten gegen die Japaner kämpfen. In Nowosibirsk sollten wir auf japanische Kriegsgefangene warten. Sie kamen aber nicht, und am 2. September kapitulierte Japan.

Ab November 1945 waren Sie in Merseburg und Halle bei der Sowjetischen Militäradministration beschäftigt. Was genau war dort Ihre Aufgabe?

Ich war Zensor. Ich musste sicherstellen, dass in Zeitungen keine Militärgeheimnisse veröffentlicht werden. Als ich in Halle die »Volkszeitung« kontrollieren musste, traf ich zu meiner Überraschung einen alten Bekannten wieder: Peter Florin. Sein Vater, der KPD-Politiker Wilhelm Florin, war mit seiner Familie 1933 in die Sowjetunion emigriert, und wir kannten uns aus Moskau. Auch er hatte den ganzen Krieg mitgemacht, in der Roten Armee und als Partisan, und wurde in der DDR Diplomat.

Außerdem hatte ich die Aufgabe, die demokratisch gesinnten Deutschen beim Aufbau einer Selbstverwaltung zu unterstützen. Das war gar nicht so leicht, aber eine interessante Arbeit. Ich wollte trotzdem endlich nach Hause und mein Medizinstudium in Moskau wieder aufnehmen. Im März 1947 war es endlich so weit. Ich kam als Gardeoberleutnant zurück zu meiner Familie, die ich vier Jahre nicht gesehen hatte, denn in der Roten Armee gab es keinen Urlaub.

Denken Sie, dass der Anteil der Roten Armee an der Niederschlagung des Faschismus heute in Deutschland und in Westeuropa ausreichend gewürdigt wird?

Nein, es wird ja seit vielen Jahren letztlich so dargestellt, als hätten die Westalliierten mit ihrer Landung in der Normandie am 6. Juni 1944 die Wende im Krieg gebracht. Der 75. Jahrestag wurde 2019 groß begangen.

Zwar haben auch die Soldaten der Westalliierten Furchtbares erlitten. Den Sieg gegen die Nazis hat aber vor allem die Rote Armee errungen, und die Sowjetunion hat den höchsten Blutzoll bezahlt. Bis zu 27 Millionen sowjetische Menschen sind in diesem Krieg umgekommen. Am »D-Day« lag der Sieg der Roten Armee in der Schlacht von Stalingrad schon 16 Monate zurück, und die Zurückschlagung der letzten deutschen Offensive im Osten bei Kursk war schon im Juli 1943 gelungen.

Der britische Premier Winston Churchill hat im Januar 1945 Stalin gebeten, die für Februar geplante Offensive an der Weichsel vorzuziehen, um die Westalliierten in den französischen Ardennen zu entlasten, denn sie waren gerade mit einer Offensive der Wehrmacht konfrontiert.

Stalin hat das tatsächlich veranlasst. Churchill hat im April 1945 im Zusammenhang mit der Niederlage der Deutschen an der Westfront geschrieben, dieser Erfolg sei »der Wucht der sowjetischen Armeen« im Osten zu verdanken. All das wird heute immer noch oder wieder totgeschwiegen.

In diesem Januar haben Sie mit Aktiven der Linken und Künstlern einen Aufruf gegen die Konfrontationspolitik der Nato gegenüber Russland initiiert. Darin protestieren Sie auch gegen die vom EU-Parlament in einer Resolution im September 2019 betriebene Gleichsetzung des Hitler-Faschismus und der Sowjetunion unter Stalin - beiden wird quasi gleichermaßen Schuld am Zweiten Weltkrieg zugeschrieben.

Natürlich ist das, was Stalin gemacht hat und was in seinem Namen geschehen ist, ein großes Verbrechen. Objektiv hat er wesentlich zur Zerstörung der kommunistischen Weltbewegung beigetragen. Millionen Menschen wurden umgebracht.

Dennoch hat das Hitler-Regime nach Polen die Sowjetunion überfallen, trotz des Hitler-Stalin-Pakts. Und es hat die fabrikmäßige Vernichtung von Menschen erfunden. Ich selbst habe eine Tante und zwei Cousinen in Auschwitz verloren. Sie wurden 1943 deportiert und sofort ins Gas geschickt. Mein Cousin wurde wegen seiner handwerklichen Fähigkeiten als nützlich angesehen. Am Ende hat ihm sein Bewacher das Leben gerettet. Als die Häftlinge auf den Todesmarsch geschickt wurden, sagte der ihm: Bleib im Keller und rühr dich nicht, sonst bist du verloren.

Ich habe das Grauen gesehen, das die Nazis über die Sowjetunion gebracht haben. Ich habe von den Deutschen ermordete Kinder gesehen, die sie in einen Ziehbrunnen geworfen hatten, und niedergebrannte Dörfer, in denen nur wenige Bewohner überlebt haben. Und ich sehe immer noch die toten Rotarmisten, aber auch die getöteten Faschisten im Winter 1942/43 auf der nackten Erde liegen. Hunderte, die nicht begraben werden konnten, weil es bitterkalt war.

Es ist infam, auch nur ansatzweise von vergleichbarer Verantwortlichkeit zu sprechen. Diese Resolution des EU-Parlaments, aber auch das dann wegen der Corona-Pandemie abgebrochene Nato-Manöver »Defender 2020« - das ist pure Provokation gegenüber Russland.

Sie sind mit dem Sozialismus stalinistischer Prägung, der ja eines der Resultate des Krieges war, und mit sich selbst in den letzten Jahrzehnten immer wieder ins Gericht gegangen. Wird dennoch etwas bleiben von diesem ersten Versuch, eine Alternative zum Kapitalismus aufzubauen?

Natürlich haben wir auch in der DDR viele Fehler gemacht. Ich war ja ab 1986 Mitglied des Zentralkomitees der SED, und im Grunde genommen haben wir alles gutgeheißen, was das Politbüro verkündet hat. Kritik haben wir nur außerhalb der Plenarsitzungen geäußert. Aber es war wegen der Frontstellung der DDR im Kalten Krieg auch schwierig. Ein wirklicher Fortschritt war jedoch: Wir waren ein Kollektiv. Wir wussten nicht, was Konkurrenz ist. Heute geht es selbst im Gesundheitswesen ums Geld. Wenn uns das in der DDR jemand erzählt hätte, den hätten wir für meschugge gehalten.