Sie lief als erste Frau die 100 Meter in unter elf Sekunden

Renate Stecher wird 70: Die Supersprinterin trifft sich noch immer regelmäßig mit den Staffelkolleginnen aus Jena und Leipzig

  • Gerald Fritsche, Jena
  • Lesedauer: 4 Min.

Ihren letzten Sprung auf das oberste Treppchen hat Renate Stecher nicht vergessen. Vor 20 Jahren zeigte sie ihren drei Kindern das Dresdner Heinz-Steyer-Stadion, in dem sie 1973 den letzten handgestoppten Weltrekord der Geschichte über 100 Meter lief: 10,8 Sekunden - mit Startnummer 108. »Dort stand irgendwo ein Siegerpodest und meine Kinder wollten, dass ich für ein Foto noch einmal hochsteige«, erinnert sich Renate Stecher, die am 12. Mai 70 Jahre alt wird.

Sie hat seit dem 7. Juni 1973 ihren festen Platz in den Sport-Geschichtsbüchern. Im tschechischen Ostrava lief sie trotz widriger Bedingungen handgestoppte 10,9 Sekunden über 100 Meter - die erste Frau, die die 11-Sekunden-Schallmauer durchbrach. »Ich hatte vorher schon mehrfach die 11,0 erreicht und es war dann ein Wettbewerb entbrannt, wer wohl die erste Frau unter 11 Sekunden sein würde. Die Kubanerin Silvia Chivas tönte immer, dass sie es sein werde. Ich habe mich nicht daran beteiligt. Mir war der Sieg immer wichtiger als die Zeit«, sagt Stecher rückblickend.

Die in Sachsen geborene und später beim damaligen SC Motor Jena zum stillen Star gereifte Frau war von Kindheit an Bewegungsfanatikerin. »Ich habe bei Chemie Torgau trainiert, da bin ich immer die sieben Kilometer mit dem Fahrrad hin und zurück. Wer macht so etwas heute denn noch?«, fragt die dreimalige Olympiasiegerin.

Weil sie die Jüngste in einer guten Trainingsgruppe war, musste sie für ihre Teamkolleginnen über 500 Meter immer den Hasen spielen, damit diese auf der 400-Meter-Distanz gute Zeiten erreichten. »Das hat viel Spaß gemacht, genau wie die Crossläufe, die ich gern mitgemacht habe«, sagt Stecher. Über einen Sichtungslehrgang kam sie schließlich an die Sportschule nach Bad Blankenburg. »Dort ging es anders zu als auf den Sportschulen später. Wir wurden neben der Schule komplex ausgebildet. Ich habe den damals noch aktuellen Fünfkampf gemacht und dort gemerkt, dass das Laufen mir am meisten lag«, sagt sie.

Die Karriere von Renate Stecher war unglaublich erfolgreich, sie hatte aber auch Makel. Bei den Olympischen Spielen in München 1972 wurde die DDR-Staffel mit ihr als Olympiasiegerin über beide Einzelstrecken nur Zweite. Die Jenaerin verlor als Schlussläuferin sensationell gegen die Weitsprung-Olympiasiegerin Heide Rosendahl aus der BRD. »Wir waren falsch besetzt, aber das war von ganz oben angeordnet. Ich selbst war immer die zweite Strecke gelaufen, das war immer die entscheidende. Es war ein Trugschluss, dass eine zweifache Einzelsiegerin auch unbedingt als Letzte die Staffel laufen muss«, sagt Stecher nicht ohne Enttäuschung nach all den Jahren. Doch Staffelgold gab’s 1976: »Vier Jahre später in Montreal haben wir gegen die BRD gewonnen - und ich lief auf Position zwei.«

Heide Ecker-Rosendahl schätzt ihre ehemalige Rivalin bis heute - und gratuliert ihr aus der Ferne. »Wir haben uns recht häufig gesehen. Kurz nach der Maueröffnung habe ich sie mit meinem Mann auch in Jena besucht. Wir haben uns immer gut verstanden«, sagt die zweimalige Olympiasiegerin aus Leverkusen. »Renate gehörte sicher zu den Ausnahmesprinterinnen«, erzählt die 73-Jährige. »Sie war eine sehr kraftvolle Läuferin. Der kurze Staccato-Schritt war ihr Markenzeichen - damit war sie ja wahnsinnig erfolgreich.«

2011 wurde Renate Stecher in die »Hall of Fame« des deutschen Sports aufgenommen - nicht ohne Nebengeräusche. Kritiker warfen ihr ihre Dopingvergangenheit vor. »Ich kann das nicht mehr hören! Eine Aufarbeitung nach den Unterlagen betraf immer nur die damalige DDR und nicht die BRD. Inzwischen steht aber auch fest, dass Doping in der BRD stärker praktiziert wurde, als bisher bekannt war. Mehr habe ich dazu nicht zu sagen«, sagte sie vor fünf Jahren. Seitdem schweigt sie zu diesem Thema.

Die studierte Sportwissenschaftlerin, die als Sportlehrerin im Hochschuldienst und nach der Wende im Studentenwerk tätig war, ist zufrieden mit ihrem Leben. Auch wenn sie seit 16 Monaten nur noch Rehasport statt Karate, Basketball und Pilates betreiben kann. Bei einem Sturz auf einer vereisten Hoteltreppe brach sie sich den Oberschenkelhals. »Ich hoffe, dass das bald besser wird«, sagt sie.

Ihren 70. Geburtstag wird die verwitwete viermalige Oma wegen der Corona-Pandemie nur mit ihren Kindern verbringen. »Ansonsten treffe wir uns immer noch mit den Staffelmädels von einst aus Jena und Leipzig. Wir sind immer noch sehr eng miteinander, eine tolle Truppe«, berichtet die Thüringerin. dpa

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