nd-aktuell.de / 16.05.2020 / Politik / Seite 17

Eine Bombe, zehntausend Kugeln

Move - eine vergessene Geschichte von polizeilichem Rassismus in den USA.

Florian Schmid

Weltweit prominent ist der Fall des afroamerikanischen Journalisten und Aktivisten Mumia Abu-Jamal. 1981 soll er im Zusammenhang mit einer Verkehrskontrolle in Philadelphia, bei der er selbst von einer Kugel getroffen wurde, einen Polizisten erschossen haben. Dafür saß er 30 Jahre in der Todeszelle, bis das Urteil 2011 in lebenslange Haft umgewandelt wurde. Weniger bekannt ist hingegen die Geschichte der brutalen Polizeirepression gegen die Gruppe Move, die den Geburtsort der amerikanischen Verfassung zu der Zeit jener Verkehrskontrolle in Atem hielt und vor nunmehr 35 Jahren in ein flammendes Inferno mündete. Nicht nur, weil Jamal über die Gruppe berichtet hatte, ist diese Geschichte erzählenswert. Sondern auch, weil sie zeigt, wie aufgeheizt und explosiv im Philadelphia der 1970er und 1980er Jahre die Stimmung zwischen schwarzer Community und fast ausschließlich weißer Polizei gewesen ist.

Tragischer Gipfel war die Polizeiaktion gegen ein von Move-Aktivisten bewohntes Haus am 13. Mai 1985. Dabei wurden elf Menschen getötet, darunter fünf Kinder. Zudem brannten über 60 Gebäude in einem vornehmlich schwarzen Viertel West-Philadelphias nieder. Zuvor hatten Polizeibeamte eine Zweikilobombe aus C4 und Tovex - einem vom FBI verwendeten Sprengstoffersatz - aus einem Hubschrauber auf ein Einfamilienhaus in einer dicht besiedelten Wohngegend abgeworfen, in der die meisten Häuser aus Holz gebaut waren. Der Bombenabwurf war der Höhepunkt einer 18-stündigen Belagerung des Hauses in der Osage Avenue, bei der die Polizei mehr als 10 000 Schuss Munition abgegeben hatte.

Tierbefreiung und AKW-Protest

Vorausgegangen war der furchtbaren Eskalation eine jahrelange Auseinandersetzung zwischen den zumeist schwarzen Aktivisten von Move und der Polizei Philadelphias. Gegründet hatte die Gruppe der charismatische John Africa, bürgerlich Vincent Leaphart. »Alles, was lebt, bewegt sich. Wenn es das nicht täte, wäre es erstarrt und tot«, war einer der schlichten Kernsätze von John Africas durchaus religiös ausgerichteter politischer Philosophie, die von seinen zumeist Rastalocken tragenden Anhängern, die fast alle ihren Nachnamen in Africa änderten, fleißig gelesen wurde. Aufgeschrieben hatte sie ein befreundeter Sozialarbeiter, denn John Africa war Analphabet.

Die Ausrichtung der naturverbundenen, maschinenstürmerischen Gruppe lag irgendwo zwischen radikalem Tierrechtsaktivismus und Anarchoprimitivismus. Hinzu kamen ein Selbstverständnis und eine Performance, die von der damals sehr aktiven Black Panther Party inspiriert war. Move war eine antirassistische, von den Praktiken der 1968er-Bewegung subkulturell geprägte schwarze Gruppierung, gewissermaßen ein »grüner« Ableger der Black Panthers. Mit ihren mitunter fundamentalistischen Positionen vor allem in Sachen Tierrechtsaktivismus eckte die Organisation auch an, sowohl in der damaligen linken Szene wie auch in der überwiegend afroamerikanischen Nachbarschaft.

Bereits 1978, als die Gruppe noch ein anderes, ebenfalls in West-Philadelphia gelegenes Haus bewohnte, hatte es regelmäßig Ärger mit Anwohnern gegeben. Move nutzte die Straße vor diesem Wohnhaus zur politischen Agitation, setzte dazu ein Megafon ein, nicht selten in den Abend- und Nachtstunden. Der Tierrechtsaktivismus der Gruppe äußerte sich unter anderem darin, dass zahlreiche streunende Hunde und Katzen auf dem Grundstück lebten und dort gefüttert wurden. Auch ein großer Komposthaufen vor dem Haus, auf dem angeblich auch menschliche Exkremente entsorgt wurden, brachte die Nachbarschaft gegen die Gruppe auf. Die Gruppe wiederum reagierte sehr dünnhäutig auf jede Form von Kritik, wütend ausgestoßene Drohungen inklusive.

Allerdings übertraf das Konfliktpotenzial gegenüber der Polizei von Philadelphia derartige Reibereien bei Weitem. In den 1970er Jahren regierte Frank Rizzo, ein ehemaliger Polizist, als Bürgermeister die Stadt und machte aus seiner persönlichen wie politischen Abneigung gegen Move keinen Hehl. Mehrfach ging die Polizei überaus brutal gegen die für gewöhnlich friedlich demonstrierenden Anhänger der Gruppe vor, die etwa Aktionen gegen den örtlichen Zoo oder Zirkusveranstaltungen durchführten, aber auch gegen das berüchtigte Atomkraftwerk »Three Miles Island« bei Harrisburg demonstrierten, das 1978 eine Havarie erlebte.

Schließlich wurde wegen dauernder Übergriffe das Thema Polizeigewalt zentral für die Gruppe, deren Mitstreiter nicht nur bei Demonstrationen und Protestaktionen von Beamten regelmäßig verprügelt wurden, sondern auch im unmittelbaren Umfeld ihres Wohnhauses Attacken von Staatsbeamten ausgesetzt waren. Bei derartigen Übergriffen von Beamten des Philadelphia Police Departments gegen Move-Mitglieder wurden auch mehrfach Schwangere verletzt, einige verloren ihre Babys.

Zum ersten Mal eskalierte die Gewalt im Jahr 1978, als es im Zuge einer drohenden Räumung des Move-Hauses (unter anderem wegen Anzeigen genervter Nachbarn) zu einer mehrwöchigen Belagerung durch die Polizei kam. Das Wohnhaus lag in unmittelbarer Nähe zum Unicampus und somit in einer Zone, die damals immobilienwirtschaftlich aufgewertet wurde. Schließlich mündete der Räumungsversuch in eine Schießerei, bei der ein Polizist getötet wurde. Neun Mitglieder der Gruppe wurden danach wegen Mordes angeklagt und erhielten lange Haftstrafen.

Move aber existierte dennoch weiter. Erst sieben Jahre später kulminierten die Auseinandersetzungen in jenem Bombenabwurf mit folgendem Großbrand; dabei wurden dann fast alle Mitglieder der Gruppe getötet. Am Morgen dieses 13. Mai 1985 zogen zunächst 500 Beamte vor dem Wohnhaus in der Osage Avenue 6221 auf, dem Move-Domizil seit 1981 residierte. Die Polizei versuchte, in das Haus einzudringen, um Haftbefehle gegen einige Aktivisten zu vollstrecken. Wasser und Elektrizität wurden abgestellt. »Achtung Move«, dröhnte ein Megafon, »dies ist Amerika. Sie haben sich den Gesetzen der Vereinigten Staaten zu beugen.« Schwere Räumfahrzeuge fuhren auf, bewaffnete Spezialkräfte setzten zum Sturm auf das Haus an. Als es erneut zur Schießerei kam, feuerte die Polizei binnen 90 Minuten jene 10 000 Kugeln ab.

Das Haus war jedoch gut geschützt. So hatten die Aktivisten teils zusätzliche Wände in Richtung Straße eingezogen - und auf dem Dach befand sich eine Art Bunker, der in den Augen der Einsatzleitung ein erhebliches Risiko darstellte und stundenlang mit Wasserwerfern beschossen wurde. Unmengen Wasser flossen in das Haus, wo sich ein Dutzend Personen im Untergeschoss verbarrikadiert hatten. Als einige versuchten, das Haus zu verlassen, wurde auf sie geschossen, und sie zogen sich wieder zurück. Das sagten Zeugen vor einem städtischen Untersuchungsausschuss, der 1986 seinen Bericht vorlegte.

Um den Bunker auf dem Dach zu brechen, entschied sich die Polizei schließlich zu jenem Bombenabwurf: Hinterher sollten Spezialkräfte von oben eindringen, so später der Einsatzleiter im Untersuchungsausschuss. Ob man dabei wirklich die auf dem Dach lagernden Benzinfässer übersehen hatte? Die Bombe jedenfalls löste nicht nur eine gewaltige Explosion aus, sondern auch jenes mehrere Stunden wütende Großfeuer, das einen ganzen Block mit mehr als 60 Häusern zerstörte.

Offene Wunden

Elf Bewohner des Hauses starben in den Flammen - auch, weil die Feuerwehr in Absprache mit der Polizei nicht sofort mit dem Löschen begonnen hatte. Man wollte warten, bis der Bunker abgebrannt war. Eine Erwachsene, Ramona Africa, überlebte mit schweren Brandwunden, außerdem ein kleines Kind namens Birdie. Ramona Africa wurde wegen Aufruhr und Verschwörung - »charges of riot and conspiracy« - zu sieben Jahren Haft verurteilt, während kein einziger Verantwortlicher für diesen »Einsatz« der Polizei jemals strafrechtlich belangt wurde. Dass jener Untersuchungsausschuss es als »skrupellos« bezeichnete, »eine Bombe auf ein besetztes Reihenhaus zu werfen«, war angesichts des in dem Haus und in der Nachbarschaft angerichteten Infernos ein schwaches Signal.

Schwer zu sagen, ob heute, 35 Jahre nach jenem Bombenabwurf, die Wunden verheilt sind, ob sie sich heilen lassen. Ramona Africa, der einzigen erwachsenen Überlebenden jener zweiten Belagerung von 1985, sowie den Angehörigen zweier Getöteter sprach ein Bundesgericht 1996 in einem Zivilverfahren immerhin eine Kompensation von 1,5 Millionen Dollar zu. Um Entschädigungen für Anwohner, die nach dem Bombenabwurf ihr Haus verloren hatten, wurde bis nach der Jahrtausendwende gerichtlich gestritten.

Die letzten Inhaftierten der ersten Belagerung von 1978 - als »Move 9« bekannt geworden - wurden Ende 2019 und Anfang 2020 entlassen, zuletzt Delbert Orr Africa. Dabei kamen auch die brutalen Bilder seiner Verhaftung wieder hoch. NBC hatte gefilmt, wie entfesselte Polizisten ihn an den Haaren über den Asphalt schleiften und von allen Seiten auf seinen Körper einprügelten.

Während die Osage Avenue heute der Gentrifizierung anheimfällt, befassen sich lokale Gruppen mit diesem dunklen Kapitel der Lokalhistorie. Und auch in der Geschichte der linken Fundamentalopposition in den USA hat Move Sedimente hinterlassen - nicht nur in der Bewegung gegen rassistische Polizeigewalt, die vor einigen Jahren abermals auflebte. Auch jener radikale Tierrechtsaktivismus und die anarchoprimitivistischen Vorstellungen, für die Move stand, sind in den Staaten bis heute weiter verbreitet als in Europa. Spuren finden sich etwa in der Gruppierung um John Zerzan, in der einige eine Keimzelle der militanten Antiglobalisierungsbewegung erkennen, die 1999 in Seattle so spektakulär in Erscheinung trat und einen globalen linksradikalen Bewegungszyklus initiierte.

Solange Mumia Abu-Jamal in Haft sitzt, ist der Polizeirassismus dieser Jahre in Philadelphia nicht Geschichte. Denn was auch immer bei jener Verkehrskontrolle 1981 genau geschah: Diese Stimmung ist der Hintergrund.