nd-aktuell.de / 23.05.2020 / Kultur / Seite 24

»Ich habe gelernt, dass ich meine emotionale Sprachlosigkeit überwinden musste«

Gesellschaftliche Schweigekulturen und männlich dominierte Narrative: Christoph May forscht zu Männlichkeiten in Filmen und Serien

Samuela Nickel

Während der Krise schauen wir deutlich mehr Serien und Filme als sonst. Ist das ein Problem?

Bei etwa 90 Prozent männlicher Drehbuchautoren sogar das größte aller Probleme: Amazon, Netflix oder Disney - die wirkmächtigsten Erzählungen werden allesamt von Männern geschrieben. Ich untersuche, wie sie Männlichkeit inszenieren und sich selbst zur Sprache bringen. Aber auch wie sie Weiblichkeit darstellen oder sich die Emanzipation der Frau vorstellen. Ein männlicher Körperpanzer zeigt sich in vielen dieser Geschichten als Killer, Outlaw oder Supermann, emotionale Sprachlosigkeit hingegen wird als innere Kreatur fantasiert: Monster, Aliens, Bestien. Oft gibt es eine Raumüberlegenheit - Todessterne, Schlachtfelder und Hobbykeller - und eine Zeitüberlegenheit, also Todesschleifen, Zeitsprünge oder Unsterblichkeitsfantasien. Alles spezifisch männliche Inszenierungsformen.

Sie geben Workshops zu kritischer Männlichkeit. Was verstehen Sie darunter?
Dass Männer sich mit ihrer eigenen hoch privilegierten Rolle auseinandersetzen. Sie müssen ihr Verhalten selbstkritisch infrage stellen und dürfen die längst überfällige Veränderungsarbeit nicht einfach allen anderen überlassen. Wenn Männer das Wort Feminismus hören, denken sie oft, das gehe sie nichts an. Weiße, westliche, heterosexuelle Männer genießen so viele Privilegien, dass sie schlicht nicht begreifen, was der feministische Diskurs mit ihnen zu tun hat. Absurd, nicht wahr? Das ist auch der Grund, weshalb bis heute keine relevante Zahl von Männern konstruktiv zur MeToo-Debatte Stellung genommen hat. Solange sie ihre Schweige- und Monokulturen nicht verlassen, bringen sie zwangsläufig die immer gleichen traditionellen Männlichkeiten hervor. Kritisch mit der eigenen Männlichkeit umzugehen bedeutet für mich, Frauen, LGBTIQ-Personen und unterrepräsentierten Menschen zuzuhören, Raum zu geben, sie zu supporten und mit ihnen das Gespräch zu suchen.

Wie reagieren die Menschen, wenn Sie sie in den Workshops damit konfrontieren? Stoßen Sie auf Widerstand?
Unentwegt. Was nicht bedeutet, dass es unfreundlich und konfrontativ zugeht. Ich bin schnell davon weggekommen, mit Wissenschaftsvokabular um mich zu werfen, stattdessen versuche ich aufzuklären. Zuerst zeige ich den Teilnehmer*innen, wie sie von früh bis spät traditionelle Männlichkeit reproduzieren und dann sprechen wir darüber, was genau sie dagegen tun können. Wir schauen uns an, was sie lesen, streamen, wie sie ihre Kinder erziehen, über Geschlecht reden, zu Hause, auf der Arbeit, in allen Lebensbereichen. Ich möchte ihnen klar machen, wie stark ihr Leben von diesen Rollenbildern geprägt ist, mit denen wir alle aufwachsen. Anhand von Serien und Filmen zum Beispiel: Ich frage, was sie gerade gucken, dann landen wir bei »Game of Thrones« oder »Big Bang Theory«, reden über das dargestellte Männerbild und sind schon mittendrin im Thema.

Gab es bei Ihnen einen Auslöser für die eigene kritische Auseinandersetzung?
Mir war 30 Jahre lang nicht klar, dass Männlichkeit mein Thema sein würde. Nach einer schwierigen Vaterbeziehung bin ich zunächst in die Berliner Graffitiszene eingetaucht. Wir hatten Spaß, aber im Rückblick war es eine verschwiegene Monokultur und ist es bis heute: 95 Prozent Männer. Später habe ich im Berghain gearbeitet und alle Formen von Partymännlichkeiten kennengelernt. Technokultur und DJ-Business werden ebenfalls von Männern dominiert. An der Uni dann Literaturwissenschaften und Alte Geschichte, im Literaturkanon auch alles Männer. Als meine Partnerin krank wurde, habe ich gemerkt, wie unglaublich schwer es mir fiel, mit ihr darüber zu sprechen. Ich hatte einfach keine Worte für Gefühle und Verzweiflung. Mir wurde klar, dass ich meine emotionale Sprachlosigkeit überwinden will und lernen muss, Ängste und Sorgen zum Ausdruck zu bringen. Und: Wenn ich mich persönlich so schwer damit tue, geht es anderen Männern sicher ähnlich. Also habe ich begonnen, Workshops und Seminare zu geben. Durch meine Forschung und die »Männerphantasien« von Klaus Theweleit bin ich in der Medienanalyse gelandet, weil hier männliche Erzählungen in die Gesellschaft gedrückt werden.

2016 haben Sie dann das Institut für kritische Männerforschung gegründet.
Nach drei Jahren habe ich aber gemerkt, dass ich kein Haus und keinen Ort brauche, wo Menschen jeden Tag zusammenkommen, um zu forschen. Mein Interesse war vielmehr, die Wissenschaft in den Alltag zu bringen. Deswegen habe ich unter dem Titel »Hetox« ein Onlinemagazin gegründet und zusätzlich das Detox-Masculinity-Netzwerk aufgebaut.

Detox Masculinity, also Männlichkeit entgiften: Was meinen Sie damit?
Toxische, also vergiftete Männlichkeit, wird vor allem von Männern oft falsch verstanden. Viele nehmen es persönlich, wenn sie den Begriff hören. Er beschreibt aber die Umgebung und die Bedingungen, in die wir hineinwachsen, also Strukturen, die für unsere Gesellschaft Gift sind und auch den Männern selbst schaden. Bei hegemonialer Männlichkeit geht es um Komplizenschaft, Marginalisierung und Unterordnung in Männerbünden und männlichen Monokulturen.

Gibt es schon heute eine sogenannte bessere, neue Männlichkeit?
Es ist noch lange nicht an der Zeit, über ein neues Männlichkeitsbild nachzudenken. Ohne vorab eine fundamentale Kritik zu durchlaufen, ist jede als »neu« proklamierte Männlichkeit zum Scheitern verurteilt. In Serien und Filmen wird diesbezüglich schon viel verhandelt, doch solange die Strukturen der Branche einzig von Männern besetzt werden, müssen ihre Narrative als hoch unglaubwürdig gelten. Hinzu kommen neue Väter- und Männerrechtsbewegungen wie Incels, Pickup-Assholes oder die Mythopoeten um John Aigner. Wenn sie sich in den Wald zurückziehen, um aus Schädeln zu trinken und ums Feuer zu rennen, bleiben sie strikt unter ihresgleichen. Sie sprechen viel von neuer Männlichkeit, praktizieren aber ein reaktionäres Männerbild.

Wo genau finden sich Männerbünde?
Einfach überall. Von Dax-Konzernen bis zum Fußballverein. Nehmen Sie Jugendkulturen, Parteiverbände, Zeitungsredaktionen. Bis hin zur Musik- und Festivalkultur. Die weltweit größte und mächtigste Schweigekultur ist die katholische Kirche. Jahrhundertealte Machtkonstellationen und Vater-Sohn-Geschichten. Männerbünde werden von wirkmächtigen Erzählungen am Laufen gehalten und wir haben diese Narrative in gesellschaftliche Institutionen gegossen, die wir so schnell nicht niederreißen werden. Seien es Bibelgeschichten oder auch Serien wie »Star Wars«, »The New Pope« oder »Westworld«. Marvel, DC oder Disney haben eine unfassbare Repräsentationsmacht, und Diversität wird hier nahezu ausschließlich nach männlichem Drehbuch inszeniert.

In Graffiticrews sehen Sie ebenfalls »schwarzmaskierte Männerbünde«. Was waren Ihre Erfahrungen in der Berliner Graffitiszene?
Von 2006 bis 2011 habe ich ein Graffitiarchiv namens »Überdose« aufgebaut. Ich bin rumgefahren und habe unentwegt Styles fotografiert, Wände und Züge »gebombt«, also besprüht. Immer in Gefahr, erwischt zu werden, von Securities, Polizisten und Anwälten - also Vater Staat. Auch hier wieder: Das wohl mächtigste Narrativ aller Zeiten handelt von abwesenden, bestrafenden Vätern und dem Leidensweg ihrer Söhne.

Verändert das dritte Geschlecht die Definitionen von Männlichkeit und Weiblichkeit?
Sicher, es ist ein Anfang. Wenn das Reformtempo in Deutschland aber nicht endlich Fahrt aufnimmt, wird es mindestens 120 Jahre dauern, bis wir faktische Gleichstellung erreicht haben. So lange Männer nicht am feministischen Diskurs teilnehmen und ihre Monokulturen hinter sich lassen, werden sie jeden Fortschritt blockieren und sich wehren. Ich meine damit Hatespeech, Verschwörungstheorien und Antifeminismus, aber auch Lobby-, Leistungs- und Karrierekulturen.

Warum bezeichnen Sie sich als pro-feministisch?
Ich will Dankbarkeit zum Ausdruck bringen und Respekt vor der feministischen Arbeit zeigen. Sie nicht vereinnahmen, sondern als Verbündeter auftreten - zuhören, lernen. Es ist ein Armutszeugnis, aber die hundertjährige feministische Arbeit und Selbstreflexion steht mir und allen anderen Männern erst noch bevor.

Interview: Samuela Nickel