nd-aktuell.de / 04.06.2020 / Politik / Seite 3

Eine andere Welt war möglich

Der Staat planierte die Republik Freies Wendland

Reimar Paul

Die Polizei kommt im Morgengrauen. An die 10 000 Beamte, viele von ihnen haben ihre Gesichter geschwärzt oder sind mit Masken vermummt, umstellen am 4. Juni 1980 die »Republik Freies Wendland«. Hubschrauber donnern im Tiefflug über das Hüttendorf.

4000 bis 5000 Atomkraftgegner sitzen eingehakt auf dem Dorfplatz. Sie singen »Hey, Cops, schmeißt die Knüppel weg« nach der Melodie des Pink-Floyd-Hits »Another Brick in the Wall«. Polizisten zerren die Leute aus der Menge und laden sie auf der anderen Seite der Absperrungen wieder ab. Manchmal wird mit dem Knüppel nachgeholfen.

Riesige Bulldozer walzen die Hütten platt. »Das Dorf könnt ihr zerstören, aber nicht die Kraft, die es schuf«, steht auf einem Transparent, das jemand zwischen den zwei Holztürmen aufgespannt hat. Der Dorfsender »Radio Freies Wendland« berichtet live von der Räumung.

33 Tage zuvor, am 3. Mai, hatten viele Hundert Anti-Atom-Aktivisten aus dem Wendland und von auswärts die Bohrstelle 1004 über dem Gorlebener Salzstock besetzt. Sie wollten gegen den möglichen Bau eines Atommüllendlagers protestieren. Auf dem sandigen Boden errichteten sie Häuser und Hütten, aus Baumstämmen, aus Stroh und sogar aus Glas. Auch ein großes Rundhaus für Versammlungen, eine Batterie von Latrinen und ein Passhäuschen mit Schlagbaum, wo »Wendenpässe« ausgestellt wurden - das Fantasiedokument war »gültig, solange sein Inhaber noch lachen kann« - und über dem die grün-gelbe Wendlandfahne flatterte.

In den Anfangstagen brachten Bauern Kartoffeln und Gemüse, Bäcker das Brot vom Vortag. Frauen aus den Wendlanddörfern buken Kuchen. Ein Landwirt schaffte Wasser in einem Tank ins Hüttendorf. Später wurde ein Brunnen gebohrt. Das Dorf wurde zur touristischen Attraktion für Familienausflüge und Kaffeefahrten. Viele Besucher solidarisierten sich mit der Protestaktion, brachten Lebensmittel und Werkzeug vorbei. Eines Abends tauchten ein paar Damen im Abendkleid und Herren im Smoking auf und überreichten etwas verlegen Platten mit Häppchen, die von einer Geschäftseinweihung übriggeblieben waren. Auch Gerhard Schröder, Bundesvorsitzender der Jusos, machte dem Hüttendorf seine Aufwartung.

Umsonst und draußen spielten Rockbands, Folkgruppen, Theaterkollektive. Die Liedermacher Wolf Biermann, damals noch links gesinnt, und Walter Moßmann traten auf, ein Jugend-Sinfonie-Orchester und die Theaterwehr Brandheide. Die »Republik Freies Wendland« war fantasievoller, kollektiver Widerstand. Bauern und Bäuerinnen machten mit, Leute von der Uni, aus Schulen, aus Fabriken. Es war politische Aktion. Und politisches Theater, das zeigte, was möglich ist, wenn sich viele gemeinsam zur Wehr setzen.