Reim dich, oder!

Die Lyrik zählt zu den ältesten literarischen Gattungen und ständig in dem Ruf auszusterben

  • Mario Pschera
  • Lesedauer: 3 Min.

Ein peinlicher Moment im Leben eines Jungerwachsenen ist wohl der, wenn er behufs Gedichtrezitation vor die Klasse zitiert wird oder das verschollene Poesiealbum, das man nur hatte, weil alle eines hatten, unerklärlicherweise wieder auftaucht und in unbefugte Hände gerät: »Mach es wie die Sonnenuhr …« Neiiin!

Dabei zählt die Lyrik zu den ältesten literarischen Gattungen. Reim und Rhythmus, Lautharmonie, Wiederholung und Variation bleiben im Gedächtnis haften; und eine gekonnte Deklamation kann den Zuhörer förmlich vom Stuhl hauen. Für einen antiken Politiker war es Pflicht, sich in der Dichtkunst zu üben, und wer den fünfhebigen Jambus nicht beherrschte, brauchte sich auf der Agora gar nicht erst blicken zu lassen.

Nun wünscht sich keiner einen reimenden Armin Laschet; und so mancher alliterierende Werbespruch treibt einem die Fremdschamesröte ins Gesicht. Dichten ist Handwerk und will, genau wie das Musizieren, geübt werden. Vielleicht rührt der despektierliche Umgang mit Lyrik ja daher, dass so mancher Dichter mit dem Gestus eines löwenmähnigen Beethoven ein paar schiefe Blockflötentöne von sich gibt und Kunst behauptet. Wenn ein Text holpert, muss das noch lange keine Synkope sein. Aber kann man, um im Bilde zu bleiben, die Urväter des Hiphop, »The Last Poets«, die in der Tradition der Wanderprediger und fahrenden Dichter gegen Ausbeutung, Rassismus und Polizeigewalt auftraten, für das infantile Klötengeklingel etwa des deutschen Gangsterrap verantwortlich machen?

Gedichte brauchen Zeit, in der Verfertigung wie in der Rezeption (auch wenn es großartige Stegreifdichtung gibt); für den schnellen Gebrauch als Lese-Fast-Food sind sie nicht gemacht. Hierzu sei Dincer Gücyeter zitiert, der den Elif Verlag betreibt: »Lyrik enthält all die Feinheiten und Kleinigkeiten, die wir oft gar nicht mehr sehen wollen. Die Zwischentöne, die wir in all dem Rummel nicht mehr hören und für die wir keine Zeit mehr haben. Und wenn man zum Beispiel an Brecht, an Lorca oder an Nâzım Hikmet denkt, merkt man, dass Lyrik gar nicht so schwer ist, wie viele immer denken. Einfach lesen!«

Einfach lesen. Sich Zeit nehmen. Das klingt nicht gerade nach Antizipation des Hamsterrades und schnellem Erfolg. Aber irgendetwas muss an der Sache doch dran sein, dass so mancher immer noch nicht davon lassen will. Es ist wohl wie mit dem Kommunismus, wenn man Brecht glauben darf: Das Einfache, das so schwer zu machen ist. Versuchen Sie’s einfach mal. Man muss ja nicht gleich eine Religion draus machen.

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