Verharmloste Katastrophe von Rouen

  • Ralf Klingsieck
  • Lesedauer: 3 Min.

Es war eine Umweltkatastrophe der besonderen Art: In der Nacht des 26. September 2019 gingen bei einem gewaltigen Brand im Lubrizol-Werk im nordfranzösischen Rouen 10 000 Tonnen giftiger Chemikalien in Flammen auf. Stundenlang legte sich eine 26 Kilometer lange tiefschwarze Wolke aus Rauch und Ruß auf die Stadt und die Umgebung. Es kam zu Protesten wegen Untätigkeit der Behörden. Besonders besorgniserregend war, dass das Werk des US-Konzerns Lubrizol zur Kategorie »Seweso« gehört. Der Name geht auf eine Kleinstadt in Norditalien zurück, wo 1976 durch einen Unfall in einem Chemiewerk hochgiftiges Dioxingas austrat. 200 Menschen erkrankten, im weiten Umkreis wurde die Natur schwer geschädigt.

Untersuchungskommission kritisiert Versagen der Behörden

Mit dem Brand von Rouen beschäftigte sich, unabhängig von einem Gerichtsverfahren, acht Monate lang eine Untersuchungskommission des Senats, der zweiten Kammer des Parlaments. Zwei Besuche vor Ort und rund 40 Stunden Anhörungen von Beteiligten und Zeugen sollten Licht ins Dunkel des schwersten Industrieunfalls in Frankreich seit 2001 bringen. Der Untersuchungskommission gehörten Vertreter aller Parteien an. Der jetzt einstimmig angenommene Abschlussbericht fällt vernichtend aus. Abgesehen von der Feuerwehr, die alles versuchte, um den Brand unter Kon-trolle zu bringen, hätten alle Behörden vor Ort versagt, heißt es darin. Und sie hätten aus Regierungskreisen in Paris dafür Rückendeckung bekommen.

Die Senatoren schlussfolgern, dass die Bevölkerung viel zu spät und dann auch nur lückenhaft über den Brand sowie die Gefahren informiert worden sein. Erst war demnach nur von 5000 Tonnen Chemikalien die Rede. Über ihre Zusammensetzung und Gefährlichkeit wurde spät, stückweise und letztlich nur auf Druck der Medien und der Proteste informiert. Die Gesundheitsgefahren wurden heruntergespielt, obwohl Experten intern vor möglichen Langzeitfolgen warnten. Ferner wurden die Untersuchungen über die Brandursachen zögerlich betrieben. Man habe toleriert, dass sich das Chemiewerk und eine benachbarte Logistikfirma gegenseitig die Schuld zuschoben.

Luft- und Bodenproben gingen verloren

Welche langfristigen Auswirkungen der Brand und die nachfolgenden Giftgaswolken für Flora und Fauna sowie mittelbar auch für die Menschen haben, werde sich wohl nie feststellen lassen, bedauern die Mitglieder der Kommission. Die seinerzeit genommenen Luft- und Bodenproben seien rätselhafterweise verloren gegangen. »So ist heute noch nicht klar und abzusehen, welche akuten und langfristigen Folgen der Brand für die Bürger mit sich gebracht hat«, kritisiert der Leiter der Untersuchungskommission, Senator Hervé Maurey von der Zentrumspartei. Die Kommission empfiehlt, alle seit dem Brand aufgetretenen Fälle von Fehlbildungen bei Neugeborenen oder von Krebs zu erfassen und auszuwerten.

Die Untersuchungskommission hat den Eindruck bestätigt, dass Chemieunternehmen - auch die landesweit 1300 in der »Seweso«-Kategorie - wenig kontrolliert werden und sich einer »wohlwollenden Nachsicht« der Behörden erfreuen. Die Regierung hat zumindest angekündigt, die Zahl der Kontrollen bis 2023 um 50 Prozent erhöhen zu wollen.

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