nd-aktuell.de / 12.06.2020 / OXI

Wohin das Geld fließt

Über die Verteilung der Einkommen, die Wirkung des Sozialstaats und alternative Mittel, Menschen vor finanzieller Not zu bewahren

Eva Roth

Seit Beginn der Pandemie bewahrt der deutsche Sozialstaat Millionen Menschen vor dem finanziellen Komplettabsturz. Ein Blick auf die vergangenen Jahre zeigt dabei: Es braucht keine Pandemie, damit die Gehälter von Millionen Menschen sinken und der Staat sie vor Armut schützen muss. Dabei ist staatliche Umverteilung keineswegs das einzige Mittel, um dies zu erreichen.

Die Pandemie-Einschränkungen haben dazu geführt, dass zahlreiche Selbstständige und Beschäftigte über Wochen keine oder kaum noch Honorare und Gehälter erhalten. Um die finanziellen Einbußen zu begrenzen, gewährt die Bundesregierung Solo-Selbstständigen Zuschüsse, Kurzarbeitende erhalten Geld aus der Arbeitslosenversicherung, das aus Beiträgen von Noch-Beschäftigten stammt.

Auch in wirtschaftlich prosperierenden Zeiten hat der Staat enormen Einfluss auf die Verteilung des Wohlstands. Was das konkret in Euro bedeutet, zeigen Daten, die Stefan Bach vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) zur Verfügung gestellt hat.

Basis der staatlichen Umverteilung sind die Markteinkommen, also Bruttolöhne und Kapitaleinkünfte. Darauf werden Steuern und Abgaben erhoben. Ein Teil des Geldes fließt an Menschen, die auf den Arbeits- oder Finanzmarkt keine Einkünfte erzielen, etwa weil sie keinen Job haben oder in Ruhestand sind.

Aus dieser Umverteilung ergeben sich die tatsächlich verfügbaren Einkommen, zu denen Nettolöhne und staatliche Leistungen, wie Arbeitslosengeld, Hartz IV und Renten, gehören.

In den 10 Prozent der ärmsten Haushalte in Deutschland erzielten die Menschen im Jahr 2017 laut DIW im Schnitt ein Markteinkommen von 117 Euro pro Person und Monat. Davon kann man nicht leben. Inklusive Sozialleistungen hatten sie 532 Euro zur Verfügung und damit viereinhalb Mal so viel.

Personen in den reichsten Haushalten (rund 10 Prozent aller Haushalte) kamen im Schnitt auf Bruttolöhne und Kapitalerträge von monatlich 5.323 Euro pro Kopf. Nach Abzug von Steuern und Abgaben blieben in diesen Haushalten 3.513 Euro für jedes Kind, jeden Erwachsenen und jeden Rentner.

Durch staatliche Umverteilung haben Arme mehr Geld, Reiche weniger – und die Mittelschicht wird gestärkt. Sortiert man die Haushalte nach ihrem Markteinkommen, gehörten zuletzt gerade einmal 45 Prozent zur Mittelschicht. Nach staatlicher Umverteilung waren es immerhin 76 Prozent. Angesichts dieses Effekts ist es bemerkenswert, wenn marktliberale Politiker einerseits die Mittelschicht beschwören und andererseits über den Sozialstaat die Nase rümpfen.

Wenn wenige Topverdiener Spitzeneinkünfte erzielen und viele zum Mindestlohn arbeiten, ist es für die Politik aufwendiger, die Unterschiede bei den Markteinkommen auszugleichen. Das ist eigentlich logisch, gerät aber in der politischen Debatte oft aus dem Blick, wenn etwa hohe Steuern beklagt werden, ohne nachzuschauen, wie die Markteinkommen verteilt sind.

Tatsächlich ist die Ungleichheit über Jahrzehnte gewachsen. So sind zwischen 1995 und 2015 die Bruttogehälter von Besserverdienenden gestiegen, die von Geringverdienenden sanken hingegen preisbereinigt um bis zu 7 Prozent, während die Wirtschaft in diesem Zeitraum um 30 Prozent wuchs.

Diese Entwicklung ist nicht mit Marktkräften, wie der Nachfrage nach Personal, zu erklären. Die sogenannten Markteinkommen werden vielmehr stark von politischen Vorgaben und wirtschaftlichen Kräfteverhältnissen bestimmt. Und die haben sich nach 1990 deutlich verschoben.

Nach der »Wende« gelang es Politik und Unternehmen, die Gewerkschaften massiv zu schwächen. Immer mehr Firmen verabschiedeten sich aus der Tarifbindung, wodurch die Gewerkschaften in diesen Betrieben keinen Einfluss mehr auf die Löhne haben. Bis heute sinkt der Anteil der Beschäftigten, für die Tarifverträge gelten. Produktmärkte, wie die Postbranche, wurden privatisiert, neue Firmen verschafften und verschaffen sich mit geringeren Lohnkosten Wettbewerbsvorteile. Der Sozialforscher Gerhard Bosch von der Uni Duisburg-Essen nennt das eine »Zerstörung von Tarifverträgen durch das Wettbewerbsrecht«. Später drückten die Hartz-Gesetze ohnehin niedrige Löhne weiter nach unten.

Der Schwächung der Gewerkschaften folgte eine »zweite Verteilungsrunde«, so Bosch: Spitzenverdiener nutzten ihren relativen Vorteil und setzten eine Absenkung der Einkommensteuer und der Unternehmenssteuern durch.

Im Ergebnis waren zuletzt sowohl die Markteinkommen als auch die verfügbaren Einkünfte ungleicher verteilt als in den 1990er Jahren. Seit einigen Jahren verharrt die Ungleichheit mit leichten Schwankungen auf einem nunmehr höheren Niveau.

In den kommenden Monaten dürften sich die Verteilungskämpfe wieder verschärfen, wenn es darum geht, wie mit der Pandemie-Verschuldung des Staats umzugehen ist. »Es wird künftig entweder höhere Steuern oder geringere staatliche Leistungen geben. Vermutlich beides«, sagte der Chef des Ifo-Instituts, Clemens Fuest, Ende April der »Rheinischen Post«.

Tatsächlich hat die Politik noch viele andere Möglichkeiten, die Fuest nicht erwähnt. Sie kann sich zum Beispiel zum Ziel setzen, die unteren und mittleren Bruttolöhne, etwa im Einzelhandel, im Gastgewerbe und in der Pflege, vor einer erneuten Absenkung zu bewahren und stattdessen anzuheben. Höhere Löhne bedeuten auch höhere Einnahmen aus Sozialbeiträgen. Das stärkt den Sozialstaat.

Damit dies gelingt, kann die Politik Gewerkschaften stärken und die Tarifbindung ausdehnen, indem sie zum Beispiel Tarifverträge für ganze Branchen für verbindlich erklärt. Das passiert in Frankreich seit Langem in großem Stil und führt dazu, dass Menschen vor finanzieller Not geschützt sind, ohne staatliche Umverteilung.