Ein Tisch mit Gewehrbeinen

Das Buch »Soviet Design« dokumentiert die Ästhetik des Wohnens in der UdSSR

  • Radek Krolczyk
  • Lesedauer: 4 Min.

Kristina Krasnyanskaya betreibt seit zwölf Jahren in Moskau eine Galerie, in der sie nationales Design und Kunst des 20. Jahrhunderts verkauft - die Heritage International Art Gallery. Die nationale Region, das ist das riesige Gebiet der ehemaligen Sowjetunion; das 20. Jahrhundert ist entsprechend kürzer und dauert nur von den 20ern bis in die 80er Jahre. Die junge Händlerin hat nun ein Buch herausgebracht, in dem sie ihren Warenpark von der suprematistischen Grafik bis zum stalinistischen Wandschrank einer kulturhistorischen Adelung unterzieht (die Grafik und Wandschrank in einer kritischen Form selbstverständlich zustehen würden). Krasnyanskaya selbst nennt sich im Verzeichnis der Autorinnen und Autoren des Bandes »Sammlerin« und »Kunstkritikerin«. Ganz sicher sammelt sie, das tun die meisten Leute, die mit ästhetischem oder auch ästhetisch-praktischem Material Handel treiben. »Kunstkritikerin« klingt »kritisch«, doch der kleine Aufsatz, den sie für ihren Band geschrieben hat, ist kaum als »kritisch« zu bezeichnen. Es handelt sich um eine Art politästhetischen Zeitstrahl, voller Allgemeinplätze über den globalen Stellenwert der sowjetischen Inneneinrichtung.

Das Buch macht auf kunstgeschichtliche Wirksamkeit, weil kunstgeschichtlich geordnete Ware sehr viel weniger nach Ware aussieht. Reine Kunstgalerien, die auch nur eine Variante von Einzelhandel sind, gehen oft sehr ähnlich vor. Erstens sind auch Kunstgalerien häufig an der Herstellung der großen monografischen Bände ihrer Künstler beteiligt, selbst dann, wenn diese von Kunstvereinen oder Museen herausgegeben werden. Zweitens haben diese Veröffentlichungen oft einen interessanten Überhang, was im Übrigen auch hier der Fall ist. Dieser Überhang liegt vor allem in der Ordnung und Fülle des Bildmaterials. Nur kritisch ist so ein Buch natürlich nicht. In den Texten des Bandes werden weder besondere Fragen entwickelt noch innere Widersprüche aufgezeigt noch Mythen modernistischer Geschichtsschreibung entzaubert. Gerade Mythen, wie um Gestalt und Kraft und Erneuerung der Moderne, braucht ein solcher Warenkatalog. Selbst die gängige, aktuelle Kunstwissenschaft hinterfragt derzeit solcherlei Kategorien, man muss gar nicht weit suchen.

Es ist selbstverständlich, dass in dem vorliegenden Band keinerlei Wertungen vorgenommen werden. Denn die Waren eines Sortiments müssen unbedingt Unterschiede aufweisen, allerdings darf keine von ihnen zugunsten einer anderen schlechtgemacht werden. Ästhetischem Material wird so viel Inhalt wie nötig zugestanden, mehr zwar auch nicht, aber immerhin. Was fehlt, ist ebenso eine Reflexion auf den aktuellen Standpunkt, von dem aus man die sowjetische Inneneinrichtung heute betrachtet und eben auch bewertet - 30 Jahre nach dem Ende der sozialistischen Staatsidee. Was ist in dieser Zeit passiert, und welche Sicht gibt es heute auf die sowjetische Ästhetik? Einfachheit und Klarheit in der Form etwa spielen heute wieder eine große Rolle - so kurz nach dem hundertjährigen Bauhaus-Jubiläum.

Ein Label wie »Midcentury« für Möbel, die nach dem Zweiten Weltkrieg an die Tradition des Bauhauses anknüpfen wollten, ist darüber hinaus sehr präsent. Auch Ideen der Verstaatlichung oder Vergesellschaftung werden heute wieder viel diskutiert. Im vorliegenden Buch werden solcherlei Aktualisierungen ästhetischer Debatten nur selten aufgegriffen, obwohl es sich anbieten würde.

Als Bilderbuch hingegen ist der Band wirklich schön. Er enthält eine reichhaltige, chronologisch geordnete Sammlung verschiedener Entwurfsskizzen von Bauten, historische Aufnahmen von Innenräumen und Fotos von Möbeln aus den sehr unterschiedlichen Phasen der Sowjetunion. Das Buch dokumentiert die verschiedenartige Ästhetik des Wohnens in der UdSSR - vom funktionalen Konstruktivismus der 20er über die neoklassizistische Schwere der 30er und 40er bis schließlich zur modernen Leichtigkeit der 70er und 80er Jahre.

Die Herangehensweise ist sogar einigermaßen interdisziplinär. So werden auch größere Zusammenhänge, etwa von gesellschaftstheoretischem und künstlerischem Diskurs, Architektur und Inneneinrichtung in den Blick genommen. Gerade im ersten Teil, der vom Konstruktivismus handelt, werden künstlerische Zeichnungen von El Lissitzky den Entwurfszeichnungen von Anton Lavinsky für eine Landbibliothek gegenübergestellt. Man sieht, dass Kunst und Gebrauchszeichnung von ihrer Formensprache her ähnlich veranlagt sind und so im Dienste derselben gesellschaftlichen Sache stehen.

Besonders schön sind die in Farbe gemalten utopischen Stadtansichten, mit denen jedes Kapitel eingeleitet wird. An ihnen wird sichtbar, dass alle Gestaltung des Alltags tatsächlich einen politischen Zweck verfolgt und visionären Charakter hat. Die verwendeten Farben sind derart luzide, dass man die Machbarkeit einer neuen Welt spürt.

Interessant ist innerhalb einer solch ausführlichen Sammlung natürlich auch all das Kuriose. Zu nennen wäre aus den stalinistischen 30er Jahren ein Tisch einer Gewehrfabrik in Tula, dessen Beine Gewehre sind. Auch in den Kriegsjahren war das Design denkbar politisch und handgreiflich.

Kristina Krasnyanskaya, Alexander Semenov (Hg.): Soviet Design. From Constructivism to Modernism. 1920-1980. Scheidegger & Spiess, 448 S., geb., 77 €.

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