nd-aktuell.de / 17.06.2020 / Kultur / Seite 7

Sie muss nichts mehr beweisen

In Klagenfurt beginnt der Bachmann-Wettbewerb, Helga Schubert ist mit 80 Jahren wieder dabei

Karsten Krampitz

Lange Zeit war beim Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt von ostdeutschen Autoren nichts zu hören. Ihre Lebenswelt und ihr Erfahrungshorizont interessierten nicht, die Zone schien auserzählt und das selbst 2019, dreißig Jahre nach dem Mauerfall. Dabei haben Schriftsteller mit DDR-Hintergrund den »Bewerb« früher einmal dominiert. Um nur die Hauptpreisträger zu nennen: Ulrich Plenzdorf, Katja Lange-Müller, Angela Krauß, Wolfgang Hilbig, Kurt Drawert, Uwe Tellkamp (auch der!) Lutz Seiler und zuletzt im Jahr 2010 Peter Wawerzinek. Man stelle sich vor, über viele Jahre hinweg hätte kein Österreicher bei den Tagen der deutschsprachigen Literatur gelesen. Ein Skandal wäre das gewesen, auch wenn es nur halb so viele Ösis wie Ossis gibt!

In diesem Jahr nun wird alles anders, und zwar wirklich alles. So finden die »Tage der deutschsprachigen Literatur« (TddL) vom 17. bis zum 21. Juni diesmal coronabedingt virtuell statt. Die Lesungen wurden voraufgezeichnet, die Jurydiskussion findet zwar live, aber eben auch in der Ferne statt. Außerdem, und jetzt kommt’s: Die Ostdeutschen sind wieder dabei! Mit Helga Schubert ist eine 80-Jährige für das Wettlesen nominiert!

Um es kurz zu machen: Helga Schubert muss nichts mehr beweisen. Die Frau kann erzählen. Einige ihrer Bücher durften in der DDR nicht erscheinen. Ihre bekannteste Arbeit ist das Szenarium für Lothar Warnekes »Die Beunruhigung« aus dem Jahr 1982 - im DDR-Kino einer der besucherstärksten Filme (laut Wikipedia 4,3 Millionen). Die Geschichte der an Brustkrebs erkrankten Inge Herold stammte aus der Feder von Helga Schubert. Etliche Jahre später dann sorgte sie mit dem Buch »Judasfrauen« für großes Aufsehen im nunmehr gesamtdeutschen Feuilleton. »Zehn Fallgeschichten weiblicher Denunziation im Dritten Reich«, so der Untertitel. Ihrer Meinung nach waren es mehr Frauen als Männer, die unter Hitler ihre Mitbürger denunzierten und damit in vielen Fällen dem Tod auslieferten. Helga Schubert fragte nach der »Schuld der Mütter«.

Eingeladen nach Klagenfurt von der Jurorin Insa Wilke, ist es für Helga Schubert bereits die zweite Nominierung - 1980 wurde ihr die Ausreise aus der DDR verwehrt. Zwei Jahre zuvor hatte Ulrich Plenzdorf mit der DDR-kritischen Erzählung »Kein runter, kein fern« den Ingeborg-Bachmann-Preis gewonnen. Die SED-Literaturfunktionäre (wir nennen keine Namen) waren von da an bemüht, eine Wiederholung der literarischen »Hetze« zu verhindern.

Nur war ein Boykott auf Dauer nicht durchzusetzen. In den 1980er Jahren lebten bereits etliche Ost-Schriftsteller in Westdeutschland, die ihre DDR-Staatsbürgerschaft behalten hatten, bekannte Autoren wie Jurek Becker, Klaus Schlesinger oder eben der sprachmächtige Wolfgang Hilbig. Und selbst der brauchte etwas Glück, um in Klagenfurt dabei zu sein: Im Sommer 1989 war eigentlich nur Natascha Wodin, seine Frau, zum Wettbewerb eingeladen. Ihrem Juror aber war der zweite Vorschlag ausgefallen, wegen Krankheit oder weil der Mann nicht mehr wollte. Und so empfahl sie ihm Wolfgang Hilbig.

Es war das erste Jahr, in dem die Lesungen auf 3sat live übertragen wurden - und Helga Schubert war jetzt Jurymitglied. Auch das hat’s gegeben. So wie die DDR als Staat zu verschiedenen Zeiten verschieden war, unterlag auch ihre Kulturpolitik etlichen Schwankungen.

Von 1987 bis 1990 vertrat Helga Schubert gemeinsam mit Werner Liersch das vierte deutschsprachige Land in der Bachmann-Preis-Jury. Sie saß in einer Reihe mit Helmut Karasek, Karl Corino, Volker Hage und anderen. Und wie die Legende erzählt, hat es in jenem Sommer nach dem Auftritt von Wolfgang Hilbig nicht allzu viel Diskussion gegeben. Der Siegertext war ein Auszug aus dem Roman »Eine Übertragung«, also ein Text, den es ganz sicher auch ohne den Wettbewerb gegeben hätte. Eben das kann man von vielen späteren Preisträgern nicht mehr sagen. Bei den »TddL« wird seit längerer Zeit eine Literatur gefeiert, die es ohne den »Bewerb« nicht geben würde, und ich wage zu behaupten: die außerhalb der Literaturbetriebsblase kaum jemanden interessiert. Ausnahmen, wie im letzten Jahr Birgit Birnbachers wunderbarer Gewinnertext »Der Schrank«, bestätigen die Regel.

In diesem Jahr aber wird alles besser. Allein schon weil Helga Schubert dabei ist! Und vielleicht gewinnt auch wieder ein Ostdeutscher: Matthias Senkel, geboren 1977 im thüringischen Greiz. Auch er wurde das zweite Mal eingeladen.

Von der Eröffnung heute um 19 Uhr bis zur Preisvergabe am Sonntag wird alles auf bachmannpreis.ORF.at gestreamt.