nd-aktuell.de / 18.06.2020 / Kultur / Seite 12

Widerstand unbekannt

Deutsche Polizeigewalt

Helmut Dahmer

Alliierte Truppen machten 1945 dem Hitler-Himmlerschen Polizeistaat ein Ende. Aus der deutschen Polizei hatte sich ab 1933 die berüchtigte Gestapo formiert, und die Polizei-»Einsatzgruppen« - »ganz normale Männer«, wie sie Christopher R. Browning in seiner Untersuchung über das »Reserve-Polizeibataillon 101« nannte - brachten Hunderttausende Menschen in Polen und Russland um. Auf deutschen Polizeistationen wurde bis Frühjahr 1945 geprügelt und gefoltert. Über Widerstandsaktionen von Polizeibeamten ist nichts bekannt. Von dieser Geschichte der deutschen Polizei weiß der normale deutsche Polizist so gut wie nichts und erfährt auch nichts darüber in seiner Ausbildung.

Die Polizei hat überall auf der Welt zwei einander widerstreitende Aufgaben: Sie soll das bestehende Recht (den Hüter der Ungleichheit) wahren und hat im Krisenfall (bei Rechtsverstößen, Verbrechen, Massendemonstrationen und Aufruhr) die Kompetenz, nicht nur bestehendes Recht durchzusetzen, sondern - durch Immunität geschützt - dem staatlichen Gewaltmonopol durch improvisierte Rechtssetzung (Ordnungs-»Maßnahmen«) Geltung zu verschaffen. Die Rechtssetzung kollidiert dann mit der Rechtswahrung, und wo beide sich überschneiden, entsteht ein Freiraum, in dem jedwedem Missbrauch Tür und Tor geöffnet sind.

Aus der repräsentativen »Leipziger Autoritarismus-Studie 2018« wissen wir, dass »die Ausländerfeindlichkeit […] die am weitesten verbreitete antidemokratische Einstellung in der Bundesrepublik« ist und dass »mehr als 40 % der Befragten […] die manifeste Bereitschaft auf[weisen], ein autoritäres System zu stützen«. Sofern Polizei (und Heer) eine Art »Spiegel« der Gesellschaft sind, steht zu erwarten, dass autoritäre und xenophobe Einstellungen sich mit ähnlichen prozentualen Anteilen auch im Gesamtkader deutscher Polizisten wiederfinden. Hier ist noch ein Faktor zu berücksichtigen: Zu den Motiven, die die Berufswahl von Polizeianwärtern bestimmen, gehört in allen Klassengesellschaften auch der Wunsch, im Zweifelsfall nicht zu den Geschlagenen, sondern zu den Schlägern zu gehören, also zu der kleinen Truppe, die über Knüppel, Gas und Revolver verfügt, und zwar nicht nur, um Verbrecherbanden oder illegalisierte politische Gruppen zu bekämpfen, sondern auch, um, falls nötig, eine aufmüpfige Normalbevölkerung in Schach zu halten.

In den drei Jahrzehnten seit der Wiedervereinigung der beiden deutschen Teilstaaten sind nicht weniger als 159 People of Color »in Polizei-Gewahrsam« oder durch Polizeischüsse ums Leben gekommen, wie Dialika Neufeld im aktuellen »Spiegel« schreibt - und das sind 159 zu viel. Kaum aber wendet sich der an den aktuellen Verhältnissen in den USA geschulte Blick zurück auf die Verhältnisse im eigenen Land, treten die Schleiermacher in Aktion, vom Innenministerium bis zur Polizeigewerkschaft. Solange es keine empirischen Daten zu Wissen (und Unwissen), zu Motiven und Weltbild deutscher Polizisten gibt, wird jeder Aufklärungsversuch zwischen der Skylla des »General-Verdachts« und der Charybdis der General-Verleugnung zerrieben.

Warum spielen Polizeigeschichte und Vorurteilskunde in der deutschen Polizeiausbildung keine Rolle? Warum gibt es keine empirische Studie zu Wissen und Motivation deutscher Polizisten?