nd-aktuell.de / 20.06.2020 / Berlin / Seite 27

Die verhängnisvolle Verlockung des Trittbrettfahrens

Der Evolutionsbiologe und Ökonom Manfred Milinski untersucht mit seinem Team, warum es Menschen so schwerfällt, ihr klimaschädliches Verhalten zu ändern

Ingrid Wenzl

Sie haben im Fachjournal »Nature Climate Change« die Ergebnisse Ihres neuen Klimaspiels vorgestellt, an dem Student*innen der Universitäten Hamburg und Kiel teilnahmen. Was wollten Sie herausfinden?
Laut Weltklimarat (IPCC) müssen wir bis 2050 den globalen CO2-Ausstoß auf die Hälfte dessen von 2007 reduzieren, um das Zwei-Grad-Ziel zu unterschreiten. Anderenfalls kommt es zum »dangerous climate change« (gefährlichen Klimawandel) mit schweren Dürren, Taifunen und eklatantem Meeresspiegelanstieg. Jeder auf der Welt muss seinen Fußabdruck so verringern, dass diese Gesamtreduktion zustande kommt. Sonst erleben wir ein Desaster. In unserem Experiment stellen wir nun die Frage, wie Migration und deren eventuelle Blockierung die kollektive Abwendung des gefährlichen Klimawandels beeinflusst.

Dabei baut Ihr aktuelles Experiment auf frühere Klimaspiele auf.
Das ursprüngliche Klimaspiel haben wir bereits 2008 entwickelt. Mit unserer aktuellen Studie haben wir eine bislang seltene komplexe Wirklichkeitsnähe erreicht. Die Grundfrage war auch 2008 schon: Wird eine Gruppe von Menschen eine festgelegte Zielsumme durch individuelle Einzahlungen erreichen, wenn sie wissen, dass sie sonst alle ihr Geld verlieren? Es zeigte sich, dass immer einige weniger einzahlen in der Hoffnung, dass andere das kompensieren. Viele Gruppen verfehlen deshalb das Ziel, und alle in der Gruppe gehen leer aus.

Wie wir aus der Realität wissen, ist diese Kooperation ja auch ein schwieriges Unterfangen! Wo sehen Sie das Hauptproblem?
Die Grundlage aller Kooperationsprobleme ist ein soziales Dilemma. Das ist ein Szenario, in dem das Interesse des Individuums nicht mit dem seiner Gruppe übereinstimmt. Alle großen Probleme der Menschheit sind solche Dilemmata. Der amerikanische Ökologe Garrett Hardin spricht von der Tragedy of the Commons, der Tragödie der Allgemeingüter. Seine Kernaussage ist: »Wenn es eine Ressource gibt, die jeder frei nutzen kann, dann wird sie zwangsläufig übernutzt und zusammenbrechen.« Ein bekanntes Beispiel dafür ist die Überfischung der Weltmeere: Jeder Fischer zieht heraus, was er kann, ohne Rücksicht darauf, dass so einzelne Arten ausgerottet werden. Das andere große Beispiel ist das Klima. Wenn Sie einen SUV-Fahrer auf den Ausstoß seines Fahrzeugs ansprechen, sagt er: »Was ich mit meinem SUV an Temperaturanstieg erzeuge, das ist so wenig, das liegt unter jeder Messgenauigkeit.« Das Problem ist: Der Mensch hat recht. Jeder einzelne kann das für sich in Anspruch nehmen und tut das auch. Am Ende verlieren alle!

In Ihrem aktuellen Experiment spielten 14 Gruppen ein Szenario mit simulierten negativen Klimaereignissen, 13 Gruppen dasselbe ohne, als Kontrolle, und 14 weitere eines mit Klimaereignissen und doppelt so hohen Ernten. Jede Gruppe bestand aus zehn Student*innen, die auf ein armes und ein reiches Land aufgeteilt wurden.
Die Einwohner des armen Lands hatten ein Startkapital von 20 Euro, die des reichen eines von 40. Zu Beginn war die Ernte pro Runde und Einwohner außerdem im armen Land nur halb so hoch wie im reichen. Das Ziel war auch hier, dangerous climate change abzuwenden, wobei alles Eingezahlte nachweisbar für den Klimaschutz eingesetzt wurde. Alle konnten dafür in jeder der 20 Runden null, zwei oder vier Euro einzahlen. Nur wenn sie gemeinsam 400 Euro erreichten, durften sie ihr übriges Geld behalten. Jeder musste also im Mittel zwei Euro pro Runde zahlen. Auch die Armen - aber die hatten ja nur halb so viel wie die Reichen.

Nun kommt noch die Migration ins Spiel. Warum ist die wichtig?
Allein 2018 gab es 16 Millionen Klimaflüchtlinge. Für das Jahr 2050 werden bis zu 200 Millionen vorausgesagt. Das Zusammenspiel zwischen Klimawandel, Armut und Migration ist sehr komplex. Indem wir wichtige Variablen der realen Situation mit Techniken der experimentellen Ökonomie simulieren, können wir ihre Interaktion verstehen.

Nach welchen Regeln darf in Ihrem Spiel migriert werden?
Pro Runde darf nur einer migrieren. Am Anfang versuchen das praktisch alle Armen, und der Computer würfelt aus, wer migrieren darf. Im reichen Land sind nun sechs Leute. Damit wird die Ernte nicht mehr durch fünf sondern durch sechs geteilt. Mit jedem Einwanderer sinkt der Erntebetrag pro Person, und im armen Land steigt er, weil sich dort weniger die Ernte teilen. Die Reichen haben also ein Interesse daran zu verhindern, dass die Armen in ihr Land kommen.

Wenn mindestens vier der Reichen vor einer Runde je 25 Cent extra einzahlen, können sie die Migration für eine Runde blockieren. Tun sie das?
Sie können selbst einzahlen oder hoffen, dass die anderen es tun. Zuerst, bei fünf Leuten, kann einer das Geld sparen. Am Ende, bei acht, muss nur noch die Hälfte einzahlen, damit Migration blockiert wird. Und da sind sie wieder in der Tragedy of the Commons gefangen. Obwohl das nicht viel Geld ist: Sie haben es in den meisten Runden nicht geschafft! Gerade die in dem reichen Treatment hätten leicht weiter zu fünft bleiben und jeder pro Runde sechs Euro ernten können. Aber die Verlockung ist zu groß, Trittbrett zu fahren. Lass doch die anderen bezahlen!

Wie lange findet Migration statt?
Bis sie so verteilt sind, dass sie pro Person in beiden Ländern denselben Ernteertrag haben. Das ist bei acht zu zwei. Dieses sogenannte Nash-Gleichgewicht - ein Begriff der Spieltheorie - ist die Verteilung auf zwei Strategien, in der es sich für keinen lohnt, zur anderen Strategie zu wechseln. Auch unter reichen Verhältnissen wird das Gleichgewicht erreicht - allerdings etwas später.

Wenn im armen Land ein Klimaereignis auftrat, fiel dort drei Runden lang die Ernte aus. Wie reagierten die Spieler*innen darauf?
Die Reichen wissen, dass die Armen vermehrt versuchen werden zu migrieren, und steigern prophylaktisch ihren Aufwand, das zu verhindern.

Und wie war es mit den Einzahlungen in den Klimafonds?
Die Armen zahlen erwartungsgemäß während der Klimaereignisse erheblich weniger. Sie sagen sich wohl, die Reichen haben weiterhin ihr großes Einkommen und sowieso viel mehr Geld, die sollen das kompensieren. Sie müssen ja insgesamt auf 400 Euro kommen, sonst verlieren auch die Reichen. Nun, die Reichen zahlen auch mehr ein während der drei Runden, aber im ärmeren Treatment (sozialwissenschaftliche Versuchsanordnung - d. Red.) nicht genug. Im reicheren reicht es gerade so.

Im ärmeren Szenario hat nur ein Viertel der Gruppen den Zielbetrag erreicht, in der Kontrolle 35 Prozent, in der Variante mit doppelt so hohen Erntebeträgen dagegen alle. Wie interpretieren Sie das Ergebnis?
Eine unserer Schlussfolgerungen ist: Wenn alle reich genug sind, kann es gehen. Sind die finanziellen Verhältnisse in beiden Ländern aber grenzwertig, wird das Klimaziel wahrscheinlich nicht erreicht. Dabei war es nicht so, dass die Spieler am Ende kein Geld mehr hatten, auch die Armen hatten noch welches. Sie haben gedacht: »Zahle ich weiter ein, dann bekomme ich am Ende fast nichts raus, zahl ich aber weniger und die anderen mehr, dann kriege ich mein Geld!« Es hat nur ein kleiner Betrag pro Person gefehlt, um das Klimaziel zu erreichen.

Wie ging es den Gruppen, die verloren haben?
Die waren furchtbar frustriert. Sie haben nachher lange diskutiert: »Was haben wir falsch gemacht? An sich ging es ja für uns darum, dieses Geld zu verdienen.« Oder sie waren wütend: »Wenn ich wüsste, wer Telesto war!« Aber sie waren von uns dazu verdonnert, nie ihre Decknamen preiszugeben.

Aber waren sie frustriert, weil sie das Geld nicht gekriegt haben, weil sie es als Gruppe nicht geschafft haben oder weil jeder nur an sich selber gedacht hat und damit das Klima vor die Hunde gegangen ist?
Der Zusammenhang zur Wirklichkeit, in der wir es auch nicht schaffen, weniger CO2 zu erzeugen, ist ihnen vor allem nach dem Spiel sehr klar gewesen.

Inwiefern lassen sich solche Experimente auf die Realität übertragen?
Die experimentelle Ökonomie mit bereits zwei Nobelpreisen hat gezeigt, dass ihre Ergebnisse weitgehend die Wirklichkeit spiegeln. Eine Bedingung ist, dass die Probanden tatsächlich ihr erspieltes Geld erhalten, und es darf nicht zu wenig sein. In unseren Experimenten geht die Abwendung des simulierten Klimawandels genauso schief wie in der Wirklichkeit. Was mich freut, ist, dass man aus den Ergebnissen Neues ablesen kann - etwa dass die Armen ab einem bestimmten Mindestbeitrag der Reichen anfangen zu kompensieren. Diese Grenze lag bei uns bei 300 Euro.

Das hat ja auch was mit Gerechtigkeit zu tun, vor allem da es maßgeblich die Menschen im Globalen Norden gewesen sind, die den Klimawandel verursacht haben.
Das ist richtig, aber es hat mich dennoch erstaunt.

Eine Besonderheit Ihrer Studie ist die Interdisziplinarität.
Als experimenteller Ökonom entwerfe ich das Spiel, führe es durch und analysiere es. Mit Professor Jochem Marotzke haben wir einen arrivierten Klimaforscher dabei. Das ist wichtig, denn wir müssen ja Klimazusammenhänge richtig simulieren. Die Ergebnisse interpretieren wir zusammen.