nd-aktuell.de / 23.06.2020 / Kultur / Seite 13

Seiltänzer, ein Buch in der Hand

Zum Tode des großen Schauspielers Jürgen Holtz

Hans-Dieter Schütt

Als vor Jahren der Regietheaterzauberer Benno Besson starb, sprach auf der Trauerfeier im Deutschen Theater Berlin auch Jürgen Holtz. Sprach mit feurigem Grimm über ein Theater, das so gern vertrieben wird aus dem öffentlichen Gedächtnis, aber doch immer wiederkommt. Sprach über politische Kontrolle in der DDR, welche das Lebendige zerstörte - und sprach über heutige Marktzwänge, welche den Selbstdarstellungszwang befördern und also ebenso ein Abtöten alles Lebendigen sind.

»Fahnenporno« Ost und »Wohlstandsporno« West als komplementäre Ausdrucksformen von Opportunismus - dagegen setzte Holtz mit innerem Beben stets sich selber: seine zwar schwächer werdende, aber kaum aufkündbare Glaubenskraft in die nicht entfremdete »Kollektivität der Arbeitenden«. Intensität ist Zumutung, und nur aus Zumutung entspringt, was Holtz unter Anmut verstand.

Der Glatzgnatzkopf. Ob er Schiller spielte oder Bernhard - was in diesem Mann gern aufglimmte, war der gallige Witz des Fürchterlichen; in hämischer Sprachlakonik schwang eine Dimension des Unheimlichen mit. Knopfaugen, in fester Lebens- und Arbeitsgemeinschaft mit den mürrischen oder feist-freudigen Mundwinkeln. Wer wie er das Publikum aus »vollgefressener Unaufmerksamkeit« reißen wollte, der fand schnell zu Heiner Müller. Oder zu B. K. Tragelehn und Einar Schleef (»Fräulein Julie« am Berliner Ensemble, mit Holtz und Jutta Hoffmann, wurde 1975 nach kurzer Zeit aus dem Spielplan getrieben); Holtz war Jahre zuvor Adolf Dresens aufstörender Hamlet in Greifswald - Beginn einer Laufbahn, in der Einmischung und Verbotenwerden zu einander bedingenden Faktoren künstlerischer Leidenschaft und Gedankenkraft wurden. Auch dem Moritz Tassow erging es so, Holtz in der Titelrolle des Hacks-Stückes, das Besson an der Volksbühne uraufgeführt hatte. Ein Sauhirt gründet die Kommune Drittes Jahrtausend. Kommunismus anders, als von den regierenden Kommunisten vorgesehen. Absetzung nach neun ausverkauften Vorstellungen. So setzt man den Wert von Kunst herauf.

Er hätte den Lear spielen müssen, unbedingt. Aber wenigstens war er Nathan, der Weise, in Mannheim, in der Regie von Hasko Weber. Überhaupt nicht die bei ihm gewohnte saftige Breitflächigkeit in Gesicht und Tönen. Nein, Zartheit, Kindessstaunen, ganz weiche Kraft für traurigste Gebrochenheit. Nathan war ein Clown, ein Pierrot. Die Ringparabel-Frage nach der rechten Religion: oft auf Bühnen so allgemein wahr, so pädagogisch abgearbeitet, so forschend durchgekaut, so elendig richtig, so ermüdend klassisch. Man wartet meist auf die Stelle und hofft, sie sei bald vorbei - Holtz machte sie zu einem Vergnügen! Beifall auf offener Szene.

1983 hatte er die DDR verlassen, arbeitete von 1985 an für zehn Jahre, mit Unterbrechungen, in Frankfurt (Main). Mit Schleef (»Mütter«, »Vor Sonnenaufgang«), in Müller-Stücken, bei Wolfgang Engel. Zu seinen großartigen Arbeiten gehörte das Ein-Personen-Stück »Katarakt« von Rainald Goetz, von Hans Hollmann inszeniert, später auch am Deutschen Theater Berlin gezeigt. Eine geradezu brutale Rede- und Schweigerolle. Wie ein Geisterschiff landet da ein Alter auf der Bühne. Die Schlüsselworte fallen früh: »Biografie: grässlich.« Und. »Alles Quatsch.« Nein, der Berliner Holtz, 1932 als Sohn eines Drogisten geboren, sagte natürlich: »Alles Kawatsch.« Und schlurfte sich eine Choreografie des Verdämmerns zusammen. Die Bosheit freundlich, der Pessimismus kreuzfidel.

Als Motzki, 1993 in Wolfgang Menges gleichnamiger Fernsehserie, war Holtz in Anlehnung ans Ekel Alfred des unvergesslichen Heinz Schubert zum Prototyp des übellaunigen Ostmenschen-Beschimpfers geworden. Der bärbeißige Hausschuh-Philosoph, eingekreist von türkischen Obsthändlern. Mit dieser Satire auf pusseligen Kleingarten-Sozialismus, plakativen Multikulti-Folklorismus und soziale Milieumiefigkeit rief der Schauspieler Heerscharen von witzlosen und ehrgekränkten »Ossis« auf den Plan. Deutsche Grobheit und das deutsche Talent, beleidigt zu sein - eine entsetzliche, eine entsetzlich lustige Mischung.

Ein borstiger Barde, dieser Holtz, böse im Blick auf das Reale, aber geradezu betend, wenn es um die Schönheit der Kunst ging, und Schönheit war für ihn: Menschen porös zu machen für den Schmerz, ihren Sinn auf all das zu lenken, was sie sich so gern vom Leibe halten. Sein Spiel besaß Geist, der durch die Zeiten der Sparte ging. Als seien Brecht und die Commedia dell'arte, der Grand Guignol und Dostojewski von Heiner Müller zum Verschwörertreff gebeten, und Holtz gab dem verschlungenen Gesprächstext solcher literarischen Gespensterstunden gleichsam einen Körper. Ja, dieser scharfe Ganzkörperton. Mit dem spielte er den Titus Andronicus in Botho Strauß’ »Schändung« am Berliner Ensemble, Regie: Thomas Langhoff: ein Herz ganz aus Uniform.

Holtz, zuletzt ein Bedeutender in Robert Wilsons Arbeiten am Berliner Ensemble: Er war, wenn man ihn traf, stets bewehrt mit neuesten Ausgaben philosophischer Zeitschriften, war ein unermüdlicher Einzelgänger, war ein forscher Rätseler nach Zusammenhängen. Wer als Intendant oder Regisseur den lohnenswerten Leichtsinn beging, diesen Schauspieler zu Arbeit einzuladen, der lud ihn sich auf. Der musste fortan mit tragen, was der Kerl anschleppte: Konzepte, Zweifel, Vorschläge. In den Riss zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit kann man hineinstürzen - oder ein Seil darüber spannen. Holtz wurde Seiltänzer. Ich sehe ihn übers Seil tanzen, gleichsam, als hätte er ein Buch in der Hand. Er musste nicht nach unten blicken. Er kannte die Abgründe, lebte sie. Spielend.

Er war zuletzt, bei Frank Castorf, der Galilei, am Berliner Ensemble: am Anfang nackt, unterm Wasserschwall der Dusche. Da zeigte sich eine hautnahe Offenheit, in die nichts Falsches mehr eindrang. Das Spiel dieses Alten war nicht auf der Flucht vor den eigenen Schamteilen. Das zerfaltete Gesicht, lachend aufgeklappt wie das Antlitz des klassischen Idioten, der allen klugen Narren vorausgeht. Aus Sätzen, die er sagte, schaute er heraus wie aus einem Kerkerfenster. Der Mensch, sich hinausdenkend ins Große, bleibt doch gefesselt an die Zeit seines verwitternden Körpers, die nur Frist ist. Nun ist Jürgen Holtz im Alter von 87 Jahren in Berlin gestorben.