nd-aktuell.de / 30.06.2020 / Kultur / Seite 13

Wenn es eng wird, kommen die Keime

Infektionsschutz durch Architektur

Georg Leisten

Man kann mit einer Wohnung einen Menschen genauso töten wie mit einer Axt.« Heinrich Zille wusste, wovon er sprach. Kaum jemand kannte das Leben und Sterben der Arbeiterschicht um 1900 besser als der legendäre Berliner Zeichner: Großfamilien auf knappstem Raum, verdreckte Hinterhöfe, feuchte Wände. Für Ratten und Kakerlaken dürften wilhelminische Mietskasernen ein Paradies gewesen sein, für Menschen waren sie die Hölle.

Heute, über 100 Jahre nach dem Ende der kaiserlichen Ära, sind all diese Bilder wieder zurück: Auch die jüngsten Covid-19-Ausbrüche in Göttingen, Berlin-Neukölln und vor allem bei dem Unternehmen Tönnies in Gütersloh stehen in Verbindung mit beengten Wohnverhältnissen. Über ein Wurzelgeflecht aus Subunternehmern ließ der ostwestfälische Fa᠆brikmetzger seine Billiglohnbrigaden in Schrott- und Schimmelimmobilien zusammenpferchen. Betroffene berichten von bis zu 14 Mitarbeitern pro Werkswohnung. Wohl auch deshalb konnte das Virus innerhalb kürzester Zeit auf andere Unternehmensbereiche überspringen. Da die politisch tolerierte Mietpreisexplosion und der vernachlässigte Sozialwohnungsbau in fast allen Städten die Menschen zum Zusammenrücken zwingen, dürften unter deutschen Dächern noch viele potenzielle Corona-Brutstätten ihrer Entdeckung harren. Wenn es eng wird, kommen die Keime.

Dabei waren Architektur und Stadtplanung zwischenzeitlich schon mal wesentlich weiter. In den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts schrieben sich Walter Gropius, Le Corbusier und andere Vertreter der Architektur-Avantgarde eine neue epidemiologische Achtsamkeit auf die Fahnen. Das sogenannte Neue Bauen wollte die klaustrophobischen Kasernen der Kaiserzeit überwinden. Erklärter Hauptfeind der neusachlichen Gesundheitsarchitektur war die Tuberkulose, bei der es sich keineswegs, wie einem Thomas Manns Roman »Der Zauberberg« weismacht, um eine Malaise der Oberschicht handelte. Begünstigt durch die großstädtischen Gammelbehausungen der sogenannten Belle Epoque, zerfraßen die Schwindsuchtbakterien vor allem die Lungen der dort lebenden Arbeiter und Tagelöhner.

»Licht, Luft, Sonne« lautete das Gegenrezept der klassisch-modernen Architekturrevolution, für die auch das Dessauer Bauhaus eintrat. Tatsächlich war bereits das klinische Weiß, die ikonische Farbe der Baumoderne, mehr als ein Ausdruck zurückgenommener Ästhetik. Helle Flächen lassen sich leichter sauber halten - ganz einfach, weil jedes Schmutzmolekül sofort ins Auge sticht. Zusätzlich unterstützten neue Heiz- und Abwassersysteme Raumklima beziehungsweise private Hygiene.

Auch die Fenster wurden größer, möglichst jedes Zimmer sollte über mindestens zwei Öffnungen verfügen. Denn nicht erst seit den Medienauftritten der Virologen und Corona-Erklärer ist bekannt, dass oft schon banaler Durchzug Speicheltröpfchen beziehungsweise Aerosole vertreiben kann. Insbesondere in Berlin als einem Epizentrum der Moderne entstanden bis 1933 international bekannte Beispiele für ein erschwingliches Bauen, bei dem die seelischen und körperlichen Bedürfnisse des Menschen respektiert wurden.

Zum Beispiel Bruno Tauts Hufeisensiedlung in Berlin-Britz: Ermöglicht das seit 2008 zum Unesco-Welterbe zählende Architekturjuwel doch bequemen Zugang zu Grün und Garten. Streng genommen müssen die Bewohner des Ensembles, um frische Luft zu schnappen, die eigenen vier Wände nicht einmal verlassen. Dafür sorgen tief in die Baukörper eingeschnittene Loggien. »Außenwohnraum« nannte Taut das für damalige Standards innovative Konzept. Wer heute in Gütersloh oder anderswo in häuslicher Corona-Quarantäne feststeckt, wird es zu schätzen wissen, wenn die Erbauer seines Heims von dem Berliner Wohnbaureformer gelernt und zumindest an einen Balkon gedacht haben.

Ähnlich progressive Ansprüche wie Taut verfolgte die Ringsiedlung Siemensstadt in Berlin-Charlottenburg. Zu den Verantwortlichen gehörte der Bauhaus-Gründer Walter Gropius. Die strenge, aber locker durchgrünte Zeilenbauweise setzte ein Zeichen gegen die dichte Blockbebauung des 19. Jahrhunderts. Dass die Siedlung, in der ursprünglich die Arbeiter der nahen Siemenswerke günstige Wohnungen finden sollten, nun einem nicht sonderlich sozial agierenden Immobilienkonzern gehört, ist allerdings ein Verrat am Gründergeist. Egal, wie denkmalgerecht restauriert wurde.

Seinerzeit eckte der sachliche Stil von Kubus und Flachdach überall an, bei traditionalistischen Vertretern des Bürgertums ebenso wie bei Arbeitern. Eine von Otto Bartning entworfene Häuserzeile der Siemensstadt bekam im Volksmund den Beinamen »Langer Jammer«. Mittlerweile dagegen sind Experten und Bewohner einhellig derselben positiven Meinung: Diese Architektur hat sich bewährt. »Die Wohnanlagen aus der Zeit der Weimarer Republik«, resümiert der Berliner Mieterverein auf seiner Internetseite, »bieten eine hohe Wohnqualität und sind den heutigen Anforderungen besser gewachsen als vieles, was davor und danach gebaut worden ist.«

Angesichts der Corona-Ausbrüche, an denen prekäre Raumverhältnisse Mitschuld tragen, wäre es also an der Zeit, sich wieder auf die sozialmedizinischen Errungenschaften der Architekturmoderne zu besinnen, die einen wichtigen Beitrag zur Infektionsprophylaxe leistete. Kaum ein Jahr ist es her, da versetzte der 100. Geburtstag des Bauhauses die Kunstwelt in einen kollektiven Jubiläumsrausch. Alle schwärmten von Wagenfeld-Leuchten, Stahlrohrschwingern und anderen zum Luxusgut gewordenen Designklassikern. Zu viel wurde dabei von klaren Linien geredet, zu wenig von klarer Luft.