nd-aktuell.de / 04.07.2020 / Kultur / Seite 10

Lebendige Kunst

15 CDs für die Berliner Staatskapelle, die 450 wird.

Berthold Seliger

Dem deutschen Klassik-Jubiläumsreigen dieses Jahres fügt die Staatskapelle Berlin ein ganz besonderes Jubelfest hinzu: Vor sage und schreibe 450 Jahren wurde dieses Orchester das erste Mal urkundlich erwähnt: 1570 als Kurbrandenburgische Hofkantorei, gegründet von den Hohenzollern.

Seit 1742 ist es als Königlich Preußische Hofkapelle dem Opernhaus Unter den Linden verbunden. Natürlich verweisen die wechselnden Namen, die das Orchester in viereinhalb Jahrhunderten trug, darauf, dass die herrschende Kultur immer auch die Kultur der Herrschenden war, und dass die Orchester, die die Herrschenden sich hielten, somit auch Instrumente der Mächtigen waren. Mit dem Zusammenbruch des Kaiserreichs 1918 ging die Trägerschaft der Hofkapelle auf das Land Preußen über, fortan hieß das Orchester Preußische Staatskapelle beziehungsweise Staatskapelle Berlin und wird heute vom Land Berlin finanziert.

Die Staatskapelle Berlin hat seit Jahrhunderten, ähnlich wie die Wiener Philharmoniker, eine Doppelfunktion inne: Sie ist sowohl das Orchester, das als Klangkörper an der Staatsoper Unter den Linden bei Opern- und Ballettaufführungen zu hören ist, als auch ein Konzertorchester, das jedes Jahr zahlreiche Sinfoniekonzerte aufführt. In beiden Funktionen hat das Orchester eine ruhmreiche Vergangenheit: unter anderem 1821 die Uraufführung Carl Maria von Webers Oper »Der Freischütz«; 1829 die nach Jahrzehnten erste Aufführung überhaupt von Bachs »Matthäuspassion« unter Felix Mendelssohn, die eine europaweite Bach-Renaissance einleitete; Uraufführungen etwa von Mendelssohns »Reformations-Sinfonie« unter seiner Leitung, 1848 der »Lustigen Weiber von Windsor« unter Leitung des Komponisten Otto Nicolai, 1923 von Alban Bergs »Wozzeck« unter Erich Kleiber.

Generalmusikdirektoren waren Gaspare Spontini, Richard Strauss, der das Orchester mehr als 1 000 Mal bei Opern und Sinfoniekonzerten dirigierte, der legendäre Bayreuther Parsifal-Dirigent Karl Muck, Erich Kleiber, Otto Klemperer oder Herbert von Karajan. Unter Otmar Suitner gewann die Staatskapelle ab Mitte der 70er Jahre wieder die kulturelle Bedeutung, die sie zuletzt in den 20er und 30er Jahren des 20. Jahrhundert besaß. Seit 1991 ist Daniel Barenboim ihr Künstlerischer Leiter und Generalmusikdirektor der Staatsoper, und mit ihm ist die Staatskapelle Berlin wieder zu einem der führenden Orchester der Welt gewachsen.

Anlässlich des Jubiläums hat die Deutsche Grammophon eine beeindruckende CD-Box mit Aufnahmen aus der großen Geschichte dieses Orchesters herausgegeben; jede der 14 CDs widmet sich einem Dirigenten, der für Geschichte und Entwicklung der Staatskapelle wichtig war, und eine Bonus-CD enthält historische Aufnahmen aus der Schellack-Zeit (überraschend hier wie überhaupt bei vielen Aufnahmen aus den 1920er und 30er Jahren die raschen Tempi).

Ein Highlight dieser Edition ist zweifelsohne die Otto-Klemperer-CD. Klemperer wurde 1927 als Generalmusikdirektor an die zusätzlich zum Stammhaus Unter den Linden eingerichtete Staatsoper am Platz der Republik, die sogenannte Kroll-Oper, berufen. Dieses Opernhaus wurde durch die Arbeit von Otto Klemperer, aber auch seiner zahlreichen Mitstreiter zu dem Opernhaus der Weimarer Republik. Die Kroll-Oper bildete - neben dem Schauspielhaus am Gendarmenmarkt - einen Schauplatz bühnenreformatorischer, revolutionärer Aufführungen und leidenschaftlicher künstlerischer Auseinandersetzungen. »Nirgends brennen wir genauer …«, so begann der Essay des Philosophen Ernst Bloch anlässlich der ersten Premiere der neuen Kroll-Oper 1927, einer Aufführung von Beethovens »Fidelio« unter Klemperer. Diesem ging es um eine Erneuerung der Oper: »Ich hasste die landläufigen Repertoire-Vorstellungen der Opernhäuser (…), es wäre schön, ein Theater zu haben für alle Tage, in dem nicht nur zwei- oder dreimal im Jahr eine gute Vorstellung war, sondern an jedem Tag eine Vorstellung, die ihren Standard hielt und sich sehen ließ.« Statt musealen Opernbetriebs »lebendige Kunst«, wie es Alfred Einstein formulierte. Gegen den herrschenden Aufführungsstil seiner Zeit voller Pathos, Prunk und Süßlichem setzte Klemperer fantasievolle, unkonventionelle Lösungen. Die Bühnenbilder stammten von Bauhaus-Professor Ewald Dülberg, den Bauhaus-Künstlern László Moholy-Nagy und Oskar Schlemmer oder vom jungen Caspar Neher, die Bearbeitung von Offenbachs Perichole, ein großer Publikumserfolg, leistete ein gewisser Karl Kraus, der sich auch an der Probenarbeit beteiligt hatte, und bedeutende Schauspielregisseure wie Gustaf Gründgens wurden zur Inszenierung von Opern herangezogen. An der Kroll-Oper war ein »europäischer Herzschlag zu spüren«, wie Hans Heinz Stuckenschmidt schrieb, »und zwar ein anderer als der des merkantilen Kosmopolitismus, der im Konzertbetrieb herrschte. Hier wurden ästhetische und geistesgeschichtliche Fragen des Tages und der Epoche in Tat, in Anschauung umgesetzt. Hier schlug das Herz des Weltgeistes.«

Die Klemperer-CD bringt Aufnahmen von 1927 bis 1931: Eine luzide Interpretation von Beethovens »Coriolan«-Ouvertüre, eine rauschhaft-fröhliche »Sommernachtstraum«-Ouvertüre von Mendelssohn, Brahms 1. Sinfonie, ein wilder Schleiertanz aus Richard Strauss’ »Salome« und eine weitgehend melancholisch-gelassene, untergründig bebende, jazzige und am Ende doch förmlich explodierende »Kleine Dreigroschenmusik« von Kurt Weill, die Klemperer 1929 an der Kroll-Oper zur Uraufführung gebracht hatte, legen Zeugnis ab von einer großen Zeit, die Klemperer im Rückblick als »künstlerisch wichtigste« seines Lebens galt.

Erich Kleiber wurde 1923 gerade einmal 33-jährig als Generalmusikdirektor an die Staatsoper berufen und blieb zwölf Jahre in dieser Funktion tätig. Man mag das Glück kaum in Worte zu fassen, dass in der zweiten Hälfte der 20er zwei so herausragende Dirigenten wie Klemperer und Kleiber gleichzeitig an den beiden Häusern der Berliner Staatsoper wirkten und die Sinfoniekonzerte der Staatskapelle leiteten. Kleiber gilt als großer Mozart-Dirigent, war aber ebenso ein entschiedener Verfechter der modernen Musik - er dirigierte die Uraufführung von Alban Bergs »Wozzeck« 1925 oder die deutsche Erstaufführung von Leoš Janáčeks »Jenufa« und brachte auch Erich Wolfgang Korngolds »Die tote Stadt« auf die Bühne. Leider gibt es keinen Mitschnitt der Uraufführung von Bergs »Lulu-«Suite aus dem Jahr 1934, die Erich Kleiber gegen die NS-Kulturfunktionäre, aber auch gegen den vehementen Protest seines Dirigenten-Kollegen Wilhelm Furtwängler durchgesetzt hatte, der 1933 zum Operndirektor ernannt worden war und sich hier schon als charakterschwacher Opportunist zeigte, durchgesetzt hatte. Die Aufführung wurde ein demonstrativer Erfolg, dem eine gnadenlose Hetzkampagne durch die gleichgeschaltete braune Presse folgte. Kleiber, »ein entschlossen antifaschistischer Dirigent« (Jonathan Carr), war gezwungen, nach Kuba und später nach Argentinien zu emigrieren.

1951, jetzt in der DDR, dirigierte Kleiber erstmals wieder an der Staatsoper, deren Generaldirektor er 1953 bis 1955 erneut war. Hier ist Erich Kleiber mit einer ebenso fein-spielerischen wie aufgeregten Version von Smetanas »Moldau« aus dem Jahr 1928, einer beeindruckenden Interpretation von Dvořáks Sinfonie Nr. 9 »Aus der neuen Welt« (1929) und mit Beethovens Fünfter aus dem Jahr 1955 zu hören - einer »schlanken« und gleichzeitig wilden, sehr schnellen Interpretation mit zahlreichen »Überfallaktionen«, etwa am Ende des ersten Satzes, der attacca in den zweiten übergeht. Fast möchte man annehmen, Kleiber würde hier das geradezu barbarische, auf den »Endsieg« zielende Dirigat dieser Sinfonie durch Furtwängler mit den Berliner Philharmonikern vom April 1943 öffentlich widerrufen - Kleiber betont die lyrischen Einwürfe, gibt dem Oboen-Rezitativ im ersten Satz viel Zeit, diesem bang fragenden Innehalten inmitten allen Vorwärtsstürmens; nur den letzten Satz nimmt er langsamer und unpathetischer, sozusagen »demokratischer« als Furtwängler.

Diese Staatskapellen-Box ist voller Fundstücke und Preziosen. Etwa auf der CD mit Otmar Suitner, der 1964 Generaldirektor der Staatsoper und Chefdirigent der Staatskapelle wurde und mehr als ein Vierteljahrhundert in dieser Position blieb. Suitner dirigierte 1973 eine meisterhafte Adaption von Mozarts spätem Es-Dur-Streichquintett, die Paul Dessau besorgt hat, mit aller Grandezza und einigen Dissonanzen, und 1987 die ebenso selten aufgeführten Variationen und Fuge op. 132 von Max Reger über das Thema von Mozarts A-Dur-Klaviersonate. Die Richard-Strauss-CD (Mozarts g-Moll-Sinfonie sowie die Eigenkompositionen »Till Eulenspiegel und Don Quixote«) ist aufgrund der eingeschränkten damaligen Aufnahmemöglichkeiten eher historisch von Interesse, ebenso der von Furtwängler dirigierte Zweite Aufzug von »Tristan und Isolde« aus dem Admiralspalast von1947 und das vom ebenfalls erheblich in die Kulturpolitik und das Musikleben des Nationalsozialismus verstrickten Franz Konwitschny (von 1955 bis zu seinem Tod 1962 Generalmusikdirektor) geleitete Vorspiel und der Erste Aufzug von Wagners »Meistersinger von Nürnberg«.

Herausragend dagegen die CD mit Einspielungen von Michael Gielen (Schuberts Unvollendete und Schönbergs Sinfonische Dichtung »Pelleas und Melisande«). Von Daniel Barenboim gibt es einen Konzertmitschnitt mit Bruckners Fünfter, und er ist nochmal als Pianist von Beethovens Drittem und Tschaikowskis Erstem Klavierkonzert mit Zubin Mehta zu hören. Von Pierre Boulez hören wir eine Erstveröffentlichung: eine inspirierende und überraschend schwelgerische Aufnahme von Mahlers Sechster Sinfonie. Schade, dass keinerlei Musik aus neuerer Zeit in der Box enthalten ist: nicht die wichtige Pflege des Œuvres von Pierre Boulez, dessen sich Barenboim und die Staatskapelle so verdienstvoll angenommen haben, und auch nicht die Aufführungen von Werken etwa Bernd Alois Zimmermanns durch Michael Gielen, von denen im Booklet die Rede ist - davon hätte man gern etwas gehört!

Dafür entschädigt wiederum Sergiu Celibidache, der 1966 ein Programm mit einem »Slawischen Tanz« von Dvořák (mit grandios akzentuierten Nebenstimmen der Bläser), den Sinfonischen Metamorphosen von Paul Hindemith und einer so eigenwilligen wie faszinierenden Lesart von Brahms Vierter Sinfonie dirigierte. Celibidache war 1945 Interimsdirigent der Berliner Philharmoniker für den aus der NS-Zeit belasteten Furtwängler und erwarb sich einen hervorragenden Ruf, wurde aber bekanntlich bei der Wahl des neuen Chefdirigenten von seinem künstlerischen Antipoden Karajan, nun ja, aus dem Feld geschlagen? Wegintrigiert?

Herbert von Karajan, der gleich zweimal in die NSDAP eintrat, im besetzten Paris das »Horst-Wessel-Lied« dirigierte und nach 1945 die Wiedereinstellung des jüdischen Konzertmeisters Szymon Goldberg bei den Berliner Philharmonikern verhinderte, tat wichtige Schritte seiner Karriere nicht bei den Philharmonikern, sondern bei der Staatskapelle und an der Staatsoper. 1938 hatte er hier nicht nur den »Fidelio«, sondern auch die Gründgens-Neuinszenierung von Mozarts »Zauberflöte« dirigiert (die nervöse, im besten Sinn aufregende Ouvertüre findet sich in dieser Box), bereits ein Jahr später wurde er zum Staatskapellmeister berufen und leitete ab dem Herbst 1940 regelmäßig die Sinfoniekonzerte der Staatskapelle. Die Karajan-CD dieser Box mit der Ouvertüre zu Verdis »Macht des Schicksals« (1938), einer, sieht man vom knallenden Finale ab, überraschend wenig pathetischen Siebten von Beethoven (1941) und dem Finale von Bruckners Achter (September 1944) birgt etliche Überraschungen und gehört zu den besten mir bekannten Einspielungen dieses Dirigenten. Besonders den Bruckner-Satz wird man so schnell nicht vergessen: voller sehnsuchtsvoller Musik, geradezu wagnerianisch dirigiert - und dröhnende Blechbläser, die sich in der Reprise mit voller Wucht zu einem Inferno steigern. »Hysterisch-übertrieben«, könnte man natürlich anmerken, wie Furtwängler das 1939 in seinem Taschenkalender angesichts eines anderen Dirigats Karajans notierte.

Das üppige 180-seitige Begleitbuch zu dieser Box lässt leider an mehreren Stellen zu wünschen übrig. Dass die Kroll-Oper bereits 1931 geschlossen wurde aus von der Zentrums-Partei angezettelter kulturpolitischer Ranküne und ihr zuletzt im Preußischen Landtag bei Stimmenthaltung der SPD nur noch die KPD zur Seite stand, wird geflissentlich verschwiegen. Wie überhaupt die blinden Flecken auffallen, was die Zeit des Nationalsozialismus angeht: 1927 wird Otto Klemperer Generalmusikdirektor. Dass er am 12. Februar 1933 eine Neueinstudierung von Wagners Tannhäuser an der Staatsoper Unter den Linden dirigierte, die von den Faschisten massiv gestört wurde, bleibt ebenso unerwähnt wie die Tatsache, dass Klemperer als Jude und Linker im April 1933 vor den Nazis fliehen musste. Die Chronik vermerkt nur lapidar: »Wilhelm Furtwängler wird zum Operndirektor ernannt.«

Ähnlich bei Erich Kleiber: Dass der als Verfechter von den Nationalsozialisten als »entartet« geschmähter Komponisten entmachtet wurde und sich 1935 gezwungen sah, aus Deutschland zu emigrieren, kommt hier nicht zur Sprache. Gewiss, ein Begleitbuch zu einer CD-Box ist nicht der geeignete Platz für eine kulturhistorische Aufarbeitung von Orchester und Opernhaus während der Zeit des Nationalsozialismus - wenn allerdings im Fall Erich Kleibers die »Konflikte mit den politischen Amtsträgern« der DDR im Jahr 1955 Erwähnung finden, die Flucht zweier der wichtigsten Generaldirektoren der Staatsoper vor dem NS-Regime aber ebenso wenig vorkommt wie die NS-Kulturpolitik, hat das doch mehr als ein »Geschmäckle«. Und warum findet man es so wichtig, den Sponsor der Veranstaltung »Staatsoper für alle«, den an Whitewashing interessierten Automobilkonzern BMW, eigens in der Chronik zu nennen, während diejenigen, die die Staatsoper Unter den Linden und die Berliner Staatskapelle seit Jahrzehnten finanzieren, nämlich die Bürger und Bürgerinnen Berlins, verschwiegen werden? Da hätte man sich mehr Sorgfalt und vielleicht auch eine klarere Haltung gewünscht.

Nichtsdestotrotz ist diese CD-Box der Staatskapelle Berlin ein interessanter und wichtiger, in Teilen geradezu funkelnder Beitrag zum großen Jubiläum dieses bedeutenden Orchesters, voller Interpretationen, die die Auseinandersetzung lohnen. Und damals wie heute ist die Staatskapelle ein Orchester »imprägniert vom Geist Berlins«, das gleichzeitig »den Geist des 20. Jahrhunderts spüren« lässt. Gratulation!

V.A.: »450 Years Staatskapelle Berlin. Great Recordings« (Deutsche Grammophon)