nd-aktuell.de / 10.07.2020 / Politik / Seite 6

Aufstand gegen die Willkür

Demonstrationen in Serbien sind ein Reflex auf autoritäre Machtausübung. Polizeigewalt heizt Spirale der Gewalt an

Roland Zschächner

In Serbien halten die Proteste weiter an. Auch am Mittwoch sind erneut Tausende Menschen im ganzen Land gegen die rechtsnationalistische Regierung auf die Straße gegangen. Die größte Kundgebung fand in Belgrad statt, doch auch in Novi Sad und Kragujevac versammelten sich Menschen.

In der Hauptstadt kam es zu Auseinandersetzungen mit der Polizei, nachdem die Beamten mit großer Härte gegen die Demonstranten vorgegangen waren. Mehrere Teilnehmer wurden verletzt, Dutzende Menschen festgenommen. Auf Aufnahmen von den Geschehnissen, die im Internet kursieren, sind Szenen mit brutaler Polizeigewalt zu sehen, etwa, wie mehrere Mitglieder der paramilitärischen Gendarmerie auf einen wehrlosen, am Boden liegenden Mann einschlagen und eintreten.

Auslöser der jüngsten Proteste waren die Pläne von Präsident Aleksandar Vučić, am Wochenende in Belgrad eine mehrtägige Sperrstunde - und damit eine vollständige Ausgangssperre - zu verhängen. Begründet wurde dieses Vorhaben mit dem Anstieg der Zahl der mit dem neuartigen Coronavirus Infizierten. Nicht die Maßnahme an sich macht die Menschen wütend, sondern die Willkür, mit der Vučić bisher die Krise gemanagt hat. Dass hinter seinen Entscheidungen politische Interessen stehen, zeigte sich, als Vučić am Mittwoch seine Ankündigung wieder zurücknahm.

Serbien hatte im März mit einem der restriktivsten Regimes auf die Ausbreitung des Coronavirus reagiert. Bereits damals zeigte sich der undemokratische und autoritäre Charakter der Exekutive. Der Notstand wurde rechtswidrig nicht vom Parlament beschlossen, sondern von Vučić und dessen Premierministerin Ana Brnabić ausgerufen.

Vor allem alte Menschen wurden fast vollständig von Straßen und Plätzen verbannt, zudem sorgten tagelange Sperrstunden dafür, dass das öffentliche Leben zum Erliegen kam. Wirtschaftlich bedeuteten die Maßnahmen eine Katastrophe: Zehntausende, vor allem geringfügig Beschäftigte, Freiberufler und Arbeiter im informellen Sektor, verloren ihr Einkommen.

Wie willkürlich die Entscheidungen in der Coronakrise waren, zeigte sich am Osterwochenende: Während Armee und Gendarmerie durch die Straßen patrouillierten, um die Ausgangsverbote durchzusetzen, war es den Anhängern der eng mit der regierenden Fortschrittspartei (SNS) von Vučić verbandelten serbisch-orthodoxen Kirche gestattet, ihre oft stundenlangen Gottesdienste zu feiern.

In den vergangenen Monaten präsentierte sich Vučić als unermüdlicher Kämpfer gegen »einen unsichtbaren Feind«. Doch das Gesundheitssystem ist nach jahrelangen neoliberalen Kürzungen kaputt gespart: Vor allem in ländlichen Gebieten ist die Versorgung schlecht, ausgebildetes Personal wird von westlichen Staaten abgeworben. Wie verheerend die Lage ist, wird zurzeit in der vor allem von der muslimischen Minderheit bewohnten Region Sandžak deutlich, wo das Militär ein Feldlazarett errichten musste, weil in dem lokalen Krankenhaus in Novi Pazar weder genug Ärzte und Pfleger*innen noch ausreichend medizinische Geräte vorhanden sind, um die steigende Zahl von Infizierten zu behandeln.

Vučić Krisenmanagement bedeutet vor allem die Wahrung der Interessen seiner Fortschrittspartei. So setzte Vučić noch im Juni Neuwahlen an, als deutlich wurde, dass auf Serbien eine Wirtschaftskrise zukommt, die größer sein wird als die von 2008. Deswegen wurden Anfang Mai die Coronabeschränkungen aufgehoben - und die veröffentliche Zahl der COVID-19-Infizierten nach unten manipuliert, wie Recherchen des US-finanzierten Onlineportals BIRN nahelegen.

Gleichzeitig wurde der Öffentlichkeit ein Bild der Rückkehr der Normalität vermittelt: So fand das Belgrader Fußballderby statt und die SNS machte Wahlkampf. Und das erfolgreich: 60 Prozent der Stimmen entfielen auf die Fortschrittspartei, wohl auch, weil ein großer Teil der Opposition die Abstimmung boykottierte.

Die Forderung der Demonstranten lautet nun: Der staatliche Krisenstab muss entpolitisiert werden. Die Vertrauten von Vučić, die hier - wie überall in öffentlichen Ämtern - platziert sind, sollen ihre Posten räumen. Außerdem wird verlangt, dass die gefangen genommenen Demonstranten freigelassen und die Verantwortlichen für die Polizeigewalt abgesetzt werden.

Inzwischen distanzierten sich alle politischen Lager von den Gewaltausbrüchen - und gaben sich gegenseitig die Schuld daran. Die Regierung vermutet hinter den Demonstranten eine von ausländischen Geheimdiensten eingefädelte rechte Verschwörung. Vučić rückte sie gleichzeitig in die Ecke von Verschwörungstheoretikern. Am Donnerstag verkündete Premierministerin Brnabić, dass in Belgrad Versammlungen von mehr als 20 Menschen verboten seien - begründet wird die Einschränkung des Demonstrationsrechts mit dem Schutz vor Neuinfektionen.