nd-aktuell.de / 16.07.2020 / Kommentare

Misstraut der Solidarität!

Es gab schon viele Anlässe, Rassismus in Deutschland zu kritisieren. Das sollte misstrauisch machen. Wir brauchen einen professionellen Antirassismus in Deutschland - auf allen Ebenen

Michael Götting

Nach der Ermordung George Floyds erlebten die Communities von Menschen afrikanischer Herkunft in Deutschland eine Flut von Solidaritätsbekundungen (häufig in Form von Spenden). Die Aufmerksamkeit einer Gesellschaft, die einen solchen Vorfall, einen Mord an einem Schwarzen Menschen, bisher oft nicht anders betrachtet hat als die meisten Weihnachten betrachten: Ein einziger Anlass im Jahr, sich intensiver mit etwas auseinanderzusetzen, was sonst eher beiläufig behandelt wird.

Es gibt Analogien zu einem anderen christlichen Feiertag und der Aufmerksamkeit, die momentan da ist und Schwarzen Menschen zuteil wird: Auch zum Osterfest geht es eigentlich um den tragischen Tod eines Menschen, dessen Ermordung uns aufwecken sollte. Die Ermordung George Floyds war wie ein Katalysator für Rassismus als gesellschaftliches Thema in Deutschland. Plötzlich waren Schwarze Menschen in deutschen Talkshows zu sehen, auf Titelseiten und das Wort Rassismus schien in aller Munde.

Lesen Sie auch: Armut nicht nur bunter machen. Bafta Sarbo über die Realität des Rassismus, Hautfarben und bürgerliche Anti-Diskriminierungspolitik.[1]

Black Lives Matter: Ein Kampf für jeden Tag [Reportage] by neues deutschland

Gelegenheiten, Rassismus in Deutschland zu thematisieren gab es auch in der Vergangenheit genug. Weil wir sie nicht genutzt haben, um tiefgreifende Veränderungen einzuleiten, gibt es Grund, dieser Welle von Solidarität, die über Schwarze Communities in diesem Land geschwappt ist, zu misstrauen. Horst Seehofer, mit seinem Vorstoß die Studie zu Racial Profiling in der Polizei zu kippen, ist wohl das prominenteste Beispiel. Aber die Zeichen, die darauf hindeuten, dass die zeitweilige Hyper-Sichtbarkeit Schwarzer Menschen in der Öffentlichkeit nicht zu tatsächlichen Veränderungen führen wird, sind auch in anderen Bereichen sichtbar.

Der Aufmacher im Feuilleton der ZEIT klärt auf, man solle lieber den Rassisten und nicht strukturellen Rassismus bekämpfen. Eigentlich eine Haltung, die uns in den vergangenen Jahrzehnten nicht weitergebracht hat. Sie lässt vollkommen außer Acht, dass es auch in deutschen Redaktionen Strukturen gibt, die (zum Beispiel) bewirken, dass der Weg des Autors zur ersten Seite des Feuilletons der ZEIT so kurz ist.

Wir diskutieren die Umbenennung des U-Bahnhofs Mohrenstraße in Glinkastraße[2] und darüber, den Begriff »Rasse« aus dem Grundgesetz zu streichen. Von der Idee her finde ich das richtig, aber es erinnert ein wenig an die Post-Racial-Bewegung der Zeit nach der Wahl Barack Obamas, die ihre ganze Energie darauf lenkte, ein bestehendes Problem (Rassismus) kurzerhand für nicht mehr existent zu erklären. Unsere Sprache zu reflektieren, Worte zu verändern, ist wichtig. Aber wenn wir Begriffe ersetzen, sollten die neuen Begriffe widerspiegeln, dass ein Bewusstseinswandel stattgefunden hat. Und auch, worin der Bewusstseinswandel besteht. Gelegenheiten, Rassismus im eigenen Land zu thematisieren, gab es genug.

Dann Alice Schwarzer (meine Güte!): Die Emma-Chefredakteurin berichtet über ihre Reisen in die USA und wie ihr auffiel, dass in den Kreisen, in denen sie sich dort bewegt nur Weiße sind, besucht daraufhin mit ihrer besten Freundin Harlem, aber kein Wort darüber, wie viele Schwarze Menschen sie bei ihrer Rückkehr in der eigenen Redaktion in Deutschland antrifft. Wenn wir antirassistische Bewegungen anderer Länder aufnehmen, dann wären die Bürgerrechtsbewegung in den USA, Black Power, die Inhaftierung von Angela Davis, Anti-Apartheid und Free Mumia gute Gelegenheiten gewesen, Rassismus im eigenen Land zu thematisieren, aber das haben wir nicht getan.

Es geht darum, Antirassismusarbeit in Deutschland (gerade in den Institutionen) zu professionalisieren. Informationen zu sammeln, zu analysieren und Maßnahmen zu ergreifen. Expertisen schaffen. Die Professionalisierung der von Rassismus Betroffenen fördern, damit sie in allen Bereichen unserer Gesellschaft präsent sind. Think-Tanks, Schulungen, Bildungsinhalte verändern, damit junge Menschen nicht mehr nach dem Schulabschluss aufholen müssen, was in der Schule nicht gelehrt wurde.

Eigentlich wäre 1945 das Jahr gewesen, mit aller Macht gegen Rassismus vorzugehen. In unserem Grundgesetz machen wir als Gesellschaft die Versprechung, genau dies zu tun. Es ist wie mit dem Glauben (irgendwie halt doch ein bisschen Religion), wenn wir es ernst meinen mit dem, was in unserem Grundgesetz steht, mit dem, wofür wir als Gesellschaft stehen wollen, dann müssen wir jeden Tag danach handeln. Die besonderen Feiertage (wie Weihnachten, wie Ostern) dienen dann nur noch dazu, sich der Werte, die wir uns gegeben haben, zu erinnern, sich darauf von Neuem einzuschwören.

Michael Götting ist Autor. Sein Roman Contrapunctus erschien 2015.

Links:

  1. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1138373.rassismus-armut-nicht-nur-bunter-machen.html
  2. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1138728.mohrenstrasse-kontroverse-ueber-koloniales-erbe.html