nd-aktuell.de / 17.07.2020 / Kommentare / Seite 8

Gegen den Normalwahnsinn

HEISSE ZEITEN - DIE KLIMAKOLUMNE über notwendige Reaktionen der Klimabewegung auf das Kohleverlängerungsgesetz

Tadzio Müller

Deutschland, wir haben ein Problem. Nicht mit Deiner freiheitlich-demokratischen Grundordnung, da bin ich voll pro. Das Problem liegt in Deiner Unfähigkeit, adäquat auf die Klimakrise zu reagieren, Deutschlands völkerrechtliche Verpflichtungen im Rahmen des Pariser Klimaschutzabkommen zu erfüllen und damit die Zukunft der Generation zu sichern, deren Proteste vergangenes Jahr das Land bewegten und erschütterten. Das Problem liegt in Deiner unsäglichen Reaktion auf zwölf Jahre Antikohle- und Klimabewegung, auf die größte Nachkriegsmobilisierung in der BRD, die im Herbst vergangenen Jahres bis zu 1,4 Millionen Menschen auf die Straße brachte, die AlleFürZukunft und eine Zukunft für Alle forderte.

Das Problem liegt in Deinem unsäglichen Kohleverlängerungsgesetz, das vor allem eine Kampfansage ist: an die Klimabewegung, an die junge Generation und an den Rest der Welt. Erstens legt es fest, dass eines der reichsten Länder der Welt erst im Jahr 2038 aus dem dreckigsten aller fossilen Brennstoffe, der Braunkohle, aussteigen wird. Zweitens wird damit der De-facto-Ausstieg aus dem Pariser Klimaschutzabkommen beschlossen, was natürlich bedeutet, dass Du dem Rest der Welt sagst, dass deutsche Profite und deutsche Arbeitsplätze wichtiger sind als globale Gerechtigkeit. Und drittens werden den Kohlefirmen (nicht: den Kohlerevieren) noch einmal gute vier Milliarden Euro in den Rachen geworfen, weil Gewinne zwar privat sein dürfen, Verluste aber von »der Gesellschaft« getragen werden.

Aus der Perspektive der Klimabewegung formuliert, sieht die Situation also so aus: In den vergangenen Jahren hat diese Bewegung unglaubliche Erfolge errungen, sowohl praktisch - siehe die materielle Verteidigung des Hambacher Waldes - als auch in Bezug auf Mobilisierung und zudem diskursiv (alle waren ja irgendwann forFuture). Jedoch konnten auch die größten Mobilisierungen und Aktionen, die besten Erzählungen, konnte aller moralischer und politischer Druck, konnte also Bewegung at its best nicht dafür sorgen, dass Du das Klima schützt.

Jetzt wird sich innerhalb der Klimabewegung die Frage gestellt, wie auf Deinen Schlag in unser Gesicht zu reagieren sei, und ich würde - wohl wissend, dass das öffentliche Aufrufen zu Straftaten selbst eine Straftat ist - diese Kolumne gerne mit einer versuchten Antwort auf diese Frage beenden: Die Literatur zu sozialen Bewegungen kennt durchaus Situationen, in denen Regierungen und Eliten in der Lage sind, den Druck auch der größten und machtvollsten Bewegung so abzufedern, dass sie keinerlei (oder wie in diesem Fall: nur vollkommen unzureichende) politischen Zugeständnisse machen müssen. In so einem Fall - so die Bewegungsforschung, siehe vor allem das Buch »Poor People’s Movements - Why They Succeed, How They Fail« von Frances Fox Piven und Richard Cloward aus dem Jahr 1977 - ist die einzige Möglichkeit, die Bewegungen haben, in den normalen Ablauf des gesellschaftlichen Alltags einzugreifen, diesen zu stören und die Kosten des Ignorierens der Forderungen so zu erhöhen, dass auch eine unwillige Regierung dazu gezwungen wird, der Bewegung nachzugeben.

Das würde wahrscheinlich niedrigschwellige Massenblockaden (Masse = mehrere Zehn-, gar Hunderttausende Menschen) der Innenstädte bedeuten, da Blockaden »an den Orten der Zerstörung«, so der ungehorsame Bewegungskonsens seit dem Scheitern der Klimagipfel, meist zu hochschwellig sind, und zum Beispiel in Kohletagebauen den breiteren gesellschaftlichen Alltag kaum stören können.

Wie schon gesagt: Ich rufe hier nicht öffentlich zu Straftaten gemäß Paragraf 111, Strafgesetzbuch, auf. Ich weise nur darauf hin, dass die Klimabewegung hierzulande nicht die erste ist, die vor dem Problem stand, von den Eliten des Landes materiell ignoriert zu werden. Und darauf, dass die Bewegungsforschung an diesem Punkt gewisse hilfreiche Erkenntnisse gewonnen hat: Massenhafter Ungehorsam gegen die gesellschaftliche Normalität ist dann der einzige Weg nach vorne. Denn diese »Normalität«, dieser Normalwahnsinn, der ist das eigentliche Problem.