nd-aktuell.de / 27.07.2020 / Kultur / Seite 12

Auch ein Opfer einer Pandemie

Max Weber - eine Spurensuche

Harald Loch

Der 100. Todestag Max Webers fiel in diesem Jahr in die Zeit der Corona-Pandemie. Der weltweit breit rezipierte Soziologe ist am 14. Juni 1920 an den Folgen der Spanischen Grippe, der damals im Anschluss an den fürchterlichem Völkermorden im Ersten Weltkrieg die Welt verheerenden Pandemie gestorben.

Zu seinem Todestag ist nach 45-jähriger Arbeit nunmehr der 47. und damit letzte Band der historisch-kritischen Max Weber-Gesamtausgabe erschienen. Die internationale Sekundärliteratur über dieses Werk füllt bereits Bibliotheken. Trotzdem ist hier eine wichtige Neuerscheinung zu annotieren: Hans-Peter Müller, emeritierter Professor für Soziologie an der Humboldt-Universität zu Berlin, hat sein Buch über Max Weber »Eine Spurensuche« untertitelt. Es ist mehr als das geworden - ein intellektuelles Vergnügen, hochgebildet, urteilsmächtig und voller geistiger Empathie.

Max Weber, ursprünglich Jurist, hat ein Werk hinterlassen, das nicht in einer geschlossenen Theorie gipfelt, sondern einem riesenhaften Torso gleicht. Es überspannt mehrere wissenschaftliche Disziplinen, es ist kaum möglich, das übergreifende Werk dieses Mannes nachzuzeichnen. Weber selbst hegte ein tiefes Misstrauen gegen die Behauptung einer homogenen Konstruktion seines Gedankengebäudes. So geht denn Müller in seiner einzigartigen »Spurensuche« einzelnen »Fragmenten« auf den Grund. Er vergewissert sich an entscheidender Stelle immer wieder des Originaltextes bei Weber und erstellt so ein mit seiner eigenen Darstellung geglückt verbundenes Lesebuch.

Als bleibendes Hauptverdienst Webers stellt Müller dessen werturteilsfreie Wissenschaftlichkeit vor, seine Methoden, die Vielzahl der von ihm entwickelten und präzise definierten Begriffe wie »Charismatische Herrschaft« oder »Verantwortungsethik«. Der Autor führt die Leser entlang knapper biografischer Angaben zu den zeitgemäßen Bedingungen der Entstehung der einzelnen Texte, arbeitet deren Bedeutung und ihre noch immer aktuelle Relevanz heraus.

Deutlich wird der Schwerpunkt von Webers wirtschaftssoziologischen Werken, diskutiert werden die kontroverse Diskussion beispielsweise über die vielbeachtete »Protestantische Ethik«. Müller kann die Enttäuschung der Zuhörer von Webers bekanntesten Vorträgen über Wissenschaft bzw. Politik als Beruf kurz vor und kurz nach dem Ende des Ersten Weltkrieges verstehen und erörtert dies. Der Autor entdeckt in Webers Werk zudem wichtige anthropologische Ansätze, vor allem wenn er virtuos aus dem »Kompaktbegriff« der Lebensführung ein Vierer-Modell herausliest: »Gesellschaft über das Konzept der Wertsphären und Lebensordnungen; Individuum über das Konzept der Persönlichkeit; Sozialstruktur über das Konzept der Lebenschancen; Kultur über das Konzept der Lebensstile.« Das alles sind wohldefinierte Begriffe bei Weber.

Diese »Spurensuche« glänzt vor wissenschaftlichem Esprit und wartet mit einer für ein soziologisches Fach- und Sachbuch überraschend eleganten Darlegung auf, die auch manche in diesem Genre unübliche, gelungene Metapher für Lesegenuss bereithält. Müller spricht gern vom Ergebnis als »Endmoräne«, und wenn er einen Gedanken abschließt von »am Ende des Tages«. Selten hat man ein so leicht geistig-gedanklich beschwingtes Buch gelesen, das sich zumal mit dem monumentalen Werk eines der größten Intellektuellen der Zeit um die vorletzte Jahrhundertwende auseinandersetzt.

Im Schlusskapitel sinniert Müller darüber, was Weber 100 Jahre nach seinem Tod von der heutigen Bundesrepublik halten würde. Hier gibt der Autor jedoch wohl eher seine eigene Meinung als die vermeintliche Webers aus. Er attestiert diesem, dass er sich nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg nicht habe vorstellen können, dass von Deutschland aus innerhalb von nur zwanzig Jahren ein Zweiter Weltkrieg angezettelt werden würde, der in der Ermordung von Millionen europäischer Juden und Versklavung von Millionen Menschen in den okkupierten Gebieten münden würde. Der das Werk Webers durchziehende grundlegende Pessimismus hätte hierzu nicht gereicht.

Hans-Peter Müller: Max Weber. Eine Spurensuche. Suhrkamp, 484 S., geb., 26 €.