Die Maske - oder: das Antlitz des anderen

Bestandsaufnahme einer von Politik und Medien gefeierten Verfremdung und Entfremdung

  • Jürgen Roth
  • Lesedauer: 6 Min.

Man muss sich langsam ernsthaft fragen, in was für einem Land man lebt.

Am 6. Juli tritt der Generalsekretär der CDU, Paul Ziemiak, vor die erlesene Schar der Hauptstadtjournalisten und eröffnet seine Pressekonferenz mit dem Satz: »Maskentragen ist sexy« - um nach der gründlich verlogenen Beteuerung, es gehe um jenen »gesellschaftlichen Zusammenhalt«, dessen Reste gerade vermutlich irreversibel zerrissen und zerfetzt werden, zu wiederholen: Wer sich eine Maske vors Gesicht schnalle, »verhält sich vernünftig und sexy«. Am selben Tag stellt der Wichteltuer und Oberwaffler Markus Söder, der vor Herrschlust und Herrschersucht kaum noch laufen kann, die Studie »Covid Kids Bavaria« vor - ja, sie heißt allen Ernstes wirklich so. Wahrscheinlich handelt es sich um ein sexy Popevent, auf das die ausgeflippten bavarian Kiddies extrem scharf sind und voll abfahren.

Nicht nur die Sprache der politischen Sphäre ist, befeuert durch den schäumenden Narzissmus ihrer Protagonisten, durch und durch entgleist und verkommen. Auch die Presse kennt keine Zurückhaltung mehr und schmeißt sich in einem infantil-degoutanten Zeitgeistschleim- und Trallala-Tonfall an die weisen Lenker unserer Geschicke ran. Beispielgebend war in den sowieso unverzichtbaren »Nürnberger Nachrichten« vor einiger Zeit von einem Mann namens Roland Englisch zu lesen: »Markus Söder ist angekommen. Wie er seine weiß-blaue Mund-Nasen-Schutzmaske trägt als einen Schild gegen die Welt draußen, diese grimmige Entschlossenheit, diese tiefe Fokussiertheit in seinem Blick, wie es klingt, wenn er durch die Maske atmet und verwaschen, aber doch deutlich zu uns spricht: Das ist nicht mehr Markus Söder, das ist Bayerns Darth Vader … Nie zuvor hat dieser Satz milder geklungen: ›Ich bin dein Vater.‹« Das war keineswegs ironisch gemeint.

Für den 14. Juli hatte Söder, »die wandelnde Berechenbarkeit« (Metulczki, freiberuflicher Bildender Künstler in Leipzig), bekanntlich eine Kabinettsitzung auf Schloss Herrenchiemsee anberaumt, wo das Grundgesetz, das man seit Monaten nach Lust und Laune demoliert und suspendiert, entworfen worden war. Und ausgerechnet am französischen Nationalfeiertag, an dem der Entmachtung des adligen Blutsaugergesockses in der Revolution von 1789 gedacht wird, fuhren Söder und die Bundeskanzlerin Angela Merkel in einer Kutsche vor. Ein neckisches, bedeutungsloses Spiel mit unzeitgemäßer politischer Symbolik? Nein. Das war durchdacht.

»Wunderbare Bilder«, bejubelte ein Moderatorenkasperle auf Phoenix, »prunkvolle Bilder«, lechzte ein Moderatorenseppl im TV-Format der »WELT«. Und in den »Nürnberger Nachrichten« hinterließ erneut Englisch einen ganzseitigen Lore-Roman, unter einem großen Querformatfoto von Merkel und Söder im Spiegelsaal von Schloss Herrenchiemsee (»Es ist eine edle Kulisse«) und der Überschrift: »Regent Söder empfängt die Kanzlerin«.

Das ist die Regression des Journalismus auf unverhüllt liebedienerischen Tratsch, der bestenfalls als Parodie seiner selbst durchginge (und dadurch aber seine Ehrerbietigkeit gegenüber der Macht noch deutlicher zu erkennen gäbe). Es falle, sabberte Englisch vor sich hin, Söder »durchaus die Rolle eines Kurfürsten zu«. Und Frau Merkel, so bemerkt er weiter, »lässt sich mit den beiden Kindern fotografieren, die in bayerischer Tracht an der Gangway der MS Ludwig Fessler warten, dem ältesten Ausflugsschiff auf dem Chiemsee, ein Raddampfer aus dem Jahr 1926«. Das Posieren mit Kindern gehört seit jeher zum Inventar inszenatorischer Motive der autoritären Herrschaft. Es signalisiert: Ich schütze, solange ich will, und wenn ich nicht mehr will, vernichte ich das Schwache oder die Schwachen.

Ein brandneues Symbol der unbegrenzten Verfügungsgewalt ist nun die Maske. Englisch gibt das in einer Mischung aus westernartiger Heldenverehrung und Königshausberichterstattung unwillentlich oder willentlich zu erkennen: »Da steht er [Söder] nun, breitbeinig, eine Maske über Mund und Nase, drei in der Hand - und blinzelt in der prallen Mittagssonne die lange Auffahrt hinauf. Irgendwann wird sie [Merkel] dort hinten erscheinen, aus ihrem Wagen steigen und zu ihm kommen.« Eine Epiphanie des Politischen, verkitscht nach allen Regeln von »Bunte« und »Gala«. Nie war in den Medien weniger Politik als heute - Politik verstanden als diskursive Austragung realer Konflikte und Benennung handfester Interessen.

Vor wenigen Tagen begründete Österreichs Kanzler Sebastian Kurz die neuerliche Verschärfung der Maskenpflicht damit, dass »die Maske auch einen symbolischen Effekt« habe: »Je mehr sie aus unserem Alltag verschwindet, desto stärker wird die Sorglosigkeit.« Deutlicher lässt es sich, im Umkehrschluss, kaum ausdrücken: Menschen, die nicht permanent von Sorge und Angst getrieben sind, zeigen der staatlichen Gier nach Drill, Dressur und Kontrolle die unverhüllte lange Nase. Das kann niemand, der das Sagen hat, wollen. Die Dauerneurotisierung des Sozialen ist sein und ihr Geschäft: die Ausrufung eines infiniten Ausnahmezustandes durch die perennierende »Anrufung des Subjekts« (Althusser), das ja seiner ursprünglichen Bedeutung nach (»subiectum«) ein Unterworfener ist, der nun seine ständige Demütigung als striktes Gebot einer unbegründeten »Vernunft« verinnerlicht und an sich selbst vollzieht.

Das Realsymbol der Maske ratifiziert die vollumfängliche, da in der Regel im Alltag mühelos zu statuierende doppelte Entfremdung: Ich-Entfremdung und zugleich Wirklichkeitsentfremdung. Die Maske zeigt nicht bloß einen tiefgreifenden Umbau unseres Weltverhältnisses an, sondern verweist auf einen radikalen Eingriff in die anthropologische Substanz und in noch vor kurzem nicht verhandelbare zivilisatorische Errungenschaften: »Vereinzelt leben, ein Leben ohne Gesicht, vom anderen Menschen Abstand halten - was unter dem Namen eines gesunden Lebens … gefordert wird, ist krank, ist wider die menschliche Natur … Sein Gesicht zeigen: Das war eine Aufforderung zum zivilen Mut«, scheibt Uli Gellermann.

Der französische Philosoph Emmanuel Levinas (1905-1995) erblickte in der Verengung des Seinszugangs auf das letztlich weltlose egologische Bewusstsein, das sich in seiner Fixierung auf eine selbsterzeugte »superlativische Objektivität« zu ermächtigen und dergestalt alles andere zu subordinieren sucht, jene Triebkraft, die die Zerstörung des Menschen zur Folge hat. »Sie setzen eine Maske zusammen, die ›Person‹ genannt wird, Person oder jemand, bestenfalls eine Persönlichkeit, die mit rein empirischer Konsistenz ausgestattet ist«, schreibt er in »Humanismus des anderen Menschen« (1972). Wo Charaktermasken waren, sollten Masken werden. In der Verhüllung (oder Ausstreichung) des »Antlitzes« triumphiert die »Totalität [der] ökonomischen Verhältnisse«, des zahlenfetischistischen, identifizierenden und addierenden Denkens, der Rechnungslegung des Daseins und der Dinge und Menschen in ihren Beziehungen zueinander. »Diese Addition des Totalen [gemeint ist das additive Prinzip der unter Verwertungsaspekten einzig aufs Ganze gerichteten Sicht auf die lebendige Welt, J.R.] ist sicher das ökonomische Leben. Also gerade da, wo das Antlitz keine Rolle spielt, wo Menschen Termini sind, wo sie in ein Ensemble kommen, wo sie sich addieren. Diese Konkretheit der Addition der Totalität ist das ökonomische Leben und das staatliche - das ökonomische Leben wird auch konkret im Staat.«

Das Gespräch, die Erfahrung der sehenden Nähe und der hörenden »Andersheit« in der ungeschmälerten Begegnung von unbedecktem, von nacktem und verletzlichem Angesicht zu Angesicht, »zersplittert immer diese Ganzheit, diese Totalität«, sagt Levinas in einem Interview. Das sei »etwas«, das »sich gegen das Terminus-Sein verteidigt, es ablehnt« - und das die Ich-Werdung in wechselseitiger »außer-ordentlicher« Freiheit, nämlich »infolge des unabweisbaren Anrufs durch das Antlitz des anderen« (Ludwig Wenzler), ermöglicht und das sich demzufolge dem »Anonymat« gewaltlos verweigert.

Damit ist es vorbei.

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