nd-aktuell.de / 28.07.2020 / Kultur / Seite 13

Man wird nicht als Frau geboren

Simone de Beauvoir für heute

Harald Loch

Bei der Würdigung guter Biografien kann man ins Schwanken geraten, ob man eher der Lebensleistung der porträtierten Persönlichkeit Respekt entgegenbringen oder der biografischen Arbeit Bewunderung zollen sollte. In den seltenen glücklichen Fällen gilt beides. Simone de Beauvoir (1908 - 1986) und deren Biografin, die Philosophin Kate Kirkpatrick, verdienen Respekt und Bewunderung.

Der englische Originaltitel lautet »Becoming Beauvoir«. Dies betrifft sowohl den Lebensweg der französischen Ikone des frühen Feminismus als auch die aus deren Leben abgeleitete Grundthese: »Man kommt nicht als Frau auf die Welt, man wird es.« »Weibliche Qualitäten« sind nicht angeboren, »sondern resultieren aus unserer Unterdrückung«, schrieb Simone de Beauvoir in ihrem Klassiker »Das andere Geschlecht«, der bereits 1949 erschien.

Kirkpatrick blickt auf Kindheit und Jugend der in einer bürgerlichen, verarmenden Familie geborenen Tochter einer gläubigen Katholikin und eines atheistischen und untreuen Vaters. Interessant ist die schon frühe Auseinandersetzung der Simone de Beauvoir mit philosophischen Themen, insbesondere mit dem Begriff der Freiheit. Bereits in jungen Jahren sinnierte sie über die Erlangung eines Gleichgewichts zwischen dem Selbst und dem Anderen. Noch bevor sie ihren Studienkollegen Jean Paul Sartre kennenlernte, mit dem sie 1929 einen lebenslangen »Pakt« schloss und der 1943 sein philosophisches Hauptwerk »Das Sein und das Nichts« veröffentlichte, in dem er die Unterscheidung zwischen »An sich« und »Für sich« ins Zentrum der Reflexion stellte. Kirkpatrick betont: »Viele haben irrigerweise diese Unterscheidung in Beauvoirs Romanen und in ›Das andere Geschlecht‹ Sartre zugeschrieben, doch Beauvoir entwickelte diese Sicht schon früh und unabhängig von ihm.«

Diese Feststellung wäre vielleicht nicht so relevant, wenn nicht Simone de Beauvoir zeitlebens und auch noch nach ihrem Tode als unselbstständige Philosophin dargestellt worden wäre, die sich in ihrem Werk lediglich aus dem von Sartre entwickelten »Existenzialismus« bedient hätte. Tatsächlich jedoch haben die beiden sich gegenseitig inspiriert und alles, was sie schrieben, einander vorgelegt. Sartre gab Nichts zur Veröffentlichung frei, was nicht den Segen von Simone de Beauvoir hatte.

Der »Pakt« hielt auch in sehr privater Hinsicht: ein intellektuelles Paar, das nie in einer gemeinsamen Wohnung lebte, sich zeitlebens mit »Sie« anredete und sich wechselseitig alle möglichen »kontingenten« Beziehungen zubilligte. Diese Verhältnisse beschreibt die Biografin ohne Voyeurismus, sondern mit gebotener Rücksicht. Sie benennt natürlich Probleme, die erst nach dem Tod der beiden sukzessive der Öffentlichkeit bekannt wurden und leider skandalisiert worden sind, beispielsweise die noch heutige Konventionen sprengenden intimen Beziehungen von Simone de Beauvoir zu anderen Männern, aber auch Frauen, darunter manche ihrer Schülerinnen. Bemerkenswert ist ihre langjährige Liebesbeziehung zu Claude Lanzmann, dem einzigen Mann mit dem sie je eine Wohnung teilte und den sie duzte. Sie sponsorte übrigens auch dessen monumentalen Film »Shoah«.

Kirkpatrick würdigt das Engagement der Simone de Beauvoir gegen die Gräuel der französischen Kolonialmacht in Algerien, ihr lebenslanges Eintreten gegen Antisemitismus und Rassismus und ihren Kampf für die Straffreiheit des Schwangerschaftsabbruchs (gesetzlich kodifiziert 1975 durch das »Loi Veil«). Ebenso ihren Einsatz für ein Antidiskriminierungsgesetz und gegen den Rechtsradikalismus, der in Frankreich mit der Front National (FN) des Jean-Marie Le Pen beängstigende Ausmaße annahm und heute von dessen Tochter Marine Le Pen befeuert wird.

Eine für die Selbstbestimmtheit der Frau einflussreiche Persönlichkeit gewinnt in dieser auf vielen neuen Quellen, darunter den erst kürzlich veröffentlichten Tagebüchern und ihrem Briefwechsel, gestützten Biografie neue, überraschende Konturen.

Kate Kirkpatrick: Simone de Beauvoir. Ein modernes Leben. Aus dem Englischen von Erica Fischer und Christine Richter-Nilsson. Piper, 523 S., geb., 25 €.