nd-aktuell.de / 31.07.2020 / Politik / Seite 5

Das Motivationsproblem

Ein Überfall in Erfurt offenbart einen Konflikt: Muss bei Straftaten von Nazis automatisch von einem rechten Tatmotiv ausgegangen werden?

Sebastian Haak

Es ist jetzt fast zwei Wochen her, dass sich an einem frühen Samstagmorgen inmitten von Erfurt, direkt vor der Thüringer Staatskanzlei, eine Gewalttat ereignete. Was genau dort geschah, ist noch immer nicht in den letzten Einzelheiten klar. Doch nach dem groben Bild, das die Ermittler bisher von dem Vorfall haben, saß dort eine Gruppe von etwa einem Dutzend Menschen friedlich auf einer Rasenfläche und in der angrenzenden Umgebung, als sich eine zweite Gruppe unter sie mischte. Dann, so sagte es der Sprecher der Staatsanwaltschaft Erfurt, Hannes Grünseisen, vor Kurzem, hätten die Ankommenden angefangen, auf etwa 15 Männer und Frauen der ersten Gruppe einzuschlagen. Diejenigen, die attackiert wurden, sind teilweise brutal verprügelt und getreten worden. Auf Fotos, die die ersten Spurensicherungen am Tatort zeigen, ist ein großer Blutfleck am Haupteingang der Staatskanzlei zu sehen.

So schlimm die Gewalttat an sich schon ist, so sehr ist sie inzwischen zu einem Politikum geworden. Wegen der Art und Weise, wie die Ermittler in diesem Fall kommuniziert haben. In ihrer ersten Meldung - etwa zwölf Stunden nach der Tat abgesetzt - sprach die Polizei nämlich noch von einem »Aufeinandertreffen alkoholisierter Gruppen«, später war immer wieder von einer »Schlägerei« oder einer »Massenschlägerei« die Rede. Da sickerten schon die ersten - damals noch unbestätigten - Meldungen durch, nach denen es sich bei den Angreifern zumindest teilweise um Neonazis mit Kampfsporterfahrung gehandelt haben soll.

Kurze Zeit später hieß es dann auch von der Staatsanwaltschaft, in diesem Fall gehe man nun vom Angriff der zweiten Gruppe auf die erste aus. Die erste Auswertung von Videos zum Tatgeschehen zeige, »dass das keine gegenseitige Schlägerei ist«, sagte Grünseisen am Montag nach dem Angriff. Noch einen Tag später bestätigte dann das Landeskriminalamt die Meldungen, nach denen Neonazis in den Überfall verwickelt gewesen sein sollen. Die bisherigen Ermittlungen hätten gezeigt, »dass einzelne Tatverdächtige mit rechtsmotivierten Straftaten in der Vergangenheit in Erscheinung getreten sind«, teilte das Landeskriminalamt am Dienstag nach dem Angriff mit.

Die Kritik an der Kommunikation der Ermittler reißt seitdem nicht ab. Es vergeht kaum ein Tag, an dem sich nicht jemand zu Wort meldet und Polizei und Staatsanwaltschaft vorwirft, sie hätten den mutmaßlich rechten Hintergrund der Attacke zumindest am Anfang negiert. Auch Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke) schloss sich der Kritik an, obwohl Polizei und Staatsanwaltschaft Teil der Landesverwaltung sind, der er vorsteht. Beide kritisierten Behörden sind schon mehrfach wegen zumindest umstrittener Kommunikation im Zusammenhang mit tatsächlich oder mutmaßlich rechten Straftaten aufgefallen. Als etwa vor einigen Wochen in Ostthüringen ein Mann am helllichten Tag eine Hakenkreuzfahne aus seinem Wohnungsfenster hängte, twitterte die Polizei zu dem Vorfall, die Motivation des Mannes sei »bislang völlig unklar«.

Am eindringlichsten kritisierten bislang die Berater vom Netzwerk Ezra, die sich um Opfer rechter Gewalttaten kümmern, sowie eine Frau, die nach eigenen Angaben selbst Opfer des Angriffs geworden war, die Kommunikation der Ermittler. Dadurch, dass zunächst von einer Massenschlägerei gesprochen worden sei, hätten sich die Überfallenen wie Täter gefühlt, sagt die Frau. »Dabei haben wir von Anfang an - auch gegenüber der Polizei - gesagt, dass wir ohne vorausgegangenen Kontakt und ohne Vorwarnung überfallen wurden.«

Grünseisen weist die Kritik an der Kommunikation der Ermittler zum mutmaßlich rechten Hintergrund des Angriffs allerdings trotzdem und noch immer zurück. Es gebe zur Motivation der Täter noch keine gesicherten Erkenntnisse, sagt er. Deshalb verbiete es sich, dazu Angaben zu machen. »An Spekulationen über etwaige Motive werde ich mich nicht beteiligen.« Ähnlich war damals auch die Reaktion der Polizei im Fall der Hakenkreuzflagge. Nachdem es massive Kritik daran gegeben hatte, dass die Beamten bei dem Flaggenhisser zunächst keine rechte Haltung diagnostiziert hatten, schrieben sie, die Beweggründe des Mannes seien noch nicht ausermittelt und man werde sich nicht »an Mutmaßungen oder Spekulationen über subjektive Tatbestandsmerkmale beteiligen«.

Hinter der Kritik an der Kommunikation und den Reaktionen darauf steht ein großer Grundsatzkonflikt zwischen Ermittlern auf der einen und Opfern und vielen Beobachtern auf der anderen Seite: Aus Sicht unter anderem von Organisationen wie Ezra ist es offensichtlich und nicht näher begründungsbedürftig, dass Neonazis bei Gewalttaten und Propagandadelikten aus rechten Motiven heraus handeln. Die Ermittler aber sagen in solchen Fällen immer wieder: Nur weil jemand eine rechtsextreme Einstellung hat, muss nicht jede seiner Straftaten davon geleitet werden.