nd-aktuell.de / 13.08.2020 / Wirtschaft und Umwelt / Seite 15

Studieren ist nicht vorgesehen

Nach dem Ende der Betreuung in Pflegefamilien oder Heimen fehlt es Jugendlichen meist an emotionalem und finanziellem Rückhalt

Jana-Sophie Brüntjen

Manchmal hätte sie sich einfach gewünscht zu hören: »Du machst das gut.« Dass jemand an sie glaubt, ihr durch Tiefs hilft. Für andere Studierende sind es oft die Eltern, die ihre Kinder emotional unterstützen. Doch die 21-jährige Laura Brüchle, die in Nordhessen bei Pflegefamilien und in einer Wohngruppe aufgewachsen ist, muss ohne diese Hilfe auskommen. Als sogenannte Careleaverin ist sie seit ihrem 18. Geburtstag auf sich gestellt, auch jetzt als Studentin der Sozialen Arbeit in Schwalmstedt.

Im Jahr 2016 verließen nach Angaben des Statistisches Bundesamtes 3831 über 18-Jährige die Vollzeitpflege in einer Pflegefamilie oder Erziehungsstelle. Wie viele studieren, wird nicht erhoben. In sechs Jahren in der Wohngruppe habe es niemanden gegeben, der ein Studium begonnen hat, sagt Brüchle. In ihrem Jahrgang sei sie die Einzige mit Abitur. Davon sei in ihrer Wohngruppe abgeraten worden, sagt die Studentin. »Während meines Abiturs gab es ein paar Situationen, in denen mir gesagt wurde: ›Schmeiß doch hin.‹ Das hat mich erst recht angespornt.«

Careleaver werden aus einem einfachen Grund fast nie zu höheren Bildungsabschlüssen ermutigt, erklärt Melanie Overbeck, stellvertretende Vorsitzende des Vereins »Careleaver Deutschland«: »Ziel ist es, möglichst schnell die finanzielle Sicherheit der jungen Menschen herzustellen, und dafür ist eine Ausbildung besser geeignet.« Die Jugendhilfe werde oft abrupt nach dem 18. Geburtstag eingestellt, obwohl ein Anspruch bis zum 21. Lebensjahr bestehe, sagt Overbeck. »Sobald die Hilfe beendet ist, müssen Careleaver allein losziehen.« Dabei fehle nicht nur die emotionale Unterstützung aus dem Elternhaus, sondern auch die finanzielle. »Viele verschulden sich im Studium.« Da das BAföG nicht elternunabhängig ist, müssen sie für den Einkommensnachweis ihre Eltern kontaktieren, die sie oft jahrelang nicht gesehen haben. Verdienen die Eltern zu viel Geld für den BAföG-Höchstsatz, werden die Härtefallregelungen nicht automatisch angewendet. In anderen Ländern sei das einfacher: »In Großbritannien können Studierende angeben, dass sie Careleaver sind und bekommen besondere Begünstigungen«, so die Expertin.

In Deutschland können sich Careleaver ein Studium ohne Nebenjob in der Regel nicht leisten. Das schlage sich in der Wahl des Studienortes- und -fachs nieder. »Herausfordernde Studiengänge wie Jura oder Medizin sind so kaum zu bewältigen«, sagt Overbeck. Stattdessen suchten sich Careleaver Fächer, die sich gut mit Jobs verbinden lassen. Teure Studienstädte wie München oder Hamburg seien nur selten eine Option.

Studierende gehören zu den ärmsten Bevölkerungsgruppen in Deutschland. Wie der »CampusBarometer 2018« des Studienfonds Deutsche Bildung AG zeigt, hatten sie in dem Jahr im Schnitt 754 Euro monatlich zur Verfügung. Jedem Fünften reichte der Umfrage nach sein Budget nicht zum Leben und Studieren aus. Viele erhielten finanzielle Unterstützung von ihren Eltern oder wohnten aus Geldmangel zu Hause.

Studentin Brüchle hatte Glück. Da ihre leiblichen Eltern kein Einkommen haben, bekomme sie den BAföG-Höchstsatz. Zudem schaffe sie es, neben ihrem Studium zu arbeiten. Emotionalen Rückhalt bekommt sie bei den Gruppentreffen des Careleaver-Vereins, bei dem sie sich ehrenamtlich engagiert. »Es hilft sehr, mit Leuten zu sprechen, die die gleichen Erfahrungen gemacht haben«, sagt sie. Die Gruppe feiere zum Beispiel zusammen Weihnachten, um an dem Tag nicht allein zu sein.

Trotzdem vermisst sie eine Rückkehrmöglichkeit. Sollte sie ihr Studium abbrechen oder es sich nicht mehr leisten können, würde die Jugendhilfe sie nicht auffangen. »Das System lässt es nicht zu, dass du Rückschläge hast.« epd/nd