nd-aktuell.de / 15.08.2020 / Politik / Seite 16

Leben in Ungewissheit

Insgesamt 86 Demonstrant*innen, die 2017 an den G 20-Protesten in Hamburg teilnahmen, warten im »Rondenbarg-Komplex« bis heute auf einen Abschluss ihrer Verfahren. Einer von ihnen erzählt, wie er den Polizeieinsatz erlebt hat und wie es ihm seither ergangen ist. Von Emil Larsson

Emil Larsson

Schon kurz nach dem Hamburger Gipfeltreffen der G20 war klar, was einige der Demonstrant*innen erwarten würde. Der damalige Hamburger Bürgermeister Olaf Scholz trat damals vor die Presse und setzte all seine Hoffnung darauf, dass die »Gewalttäter sehr hohe Haftstrafen kassieren werden«, denn das hätten sie verdient. Später verkündete die Polizei stolz, Tausende Ermittlungsverfahren eingeleitet zu haben. 59 Personen wurden bisher zu Haftstrafen auf Bewährung verurteilt. Fünf Menschen sitzen aktuell wegen der Proteste im Gefängnis, viele warten noch immer auf ihren Prozess.

Einer davon ist Tim*. Er wird neben 86 weiteren Aktivist*innen im sogenannten »Rondenbarg-Komplex« beschuldigt, an schwerem Landfriedensbruch, tätlichem Angriff auf Vollstreckungsbeamte, versuchter gefährlicher Körperverletzung oder Bildung bewaffneter Gruppen beteiligt gewesen zu sein. Die Polizei behauptet, aus der Masse der Demonstranten seien Steine und Flaschen geflogen. In der unscheinbaren Straße Rondenbarg, weitab vom eigentlichen Demonstrationsgeschehen, war es zu einem der umstrittensten Polizeieinsätze in der Hamburger Polizeigeschichte gekommen. Ein großer Teil der noch ausstehenden Verfahren geht auf diesen Einsatz zurück. Tim und den anderen werden mehrere schwere Straftaten vorgeworfen und das alles nur, sagt Tim, weil sie an einer Demonstration teilgenommen haben. Mehrere der Straftatbestände waren erst kurz vor dem Gipfeltreffen mit einem höheren Strafmaß belegt worden.

Wegen der Covid-19-Pandemie wurde Tims Prozess bereits mehrfach verschoben. Für ihn und die anderen Beschuldigten bedeutet der Verzug vor allem Ungewissheit. Eine Ungewissheit, die dem 23-jährigen Studenten schlaflose Nächte bereitet. Die potenzielle Haftstrafe schwebt wie ein Damoklesschwert über ihm. Pläne für die Zukunft zu schmieden, erscheint vorerst hinfällig.

Der im Zusammenhang des »Rondenbarg-Komplexes« viel beachtete Prozess gegen den Italiener Fabio V. ist bereits aufgrund der langen Verfahrensdauer geplatzt. Kurz vor Ende wurde die zuständige Richterin krank und ging dann in den Mutterschutz. Der damals gerade einmal 18 Jahre alte Fabio V. saß zu Beginn des Prozesses schon fünf Monate in Untersuchungshaft, obwohl ihm keine konkrete Tat, sondern nur die Anwesenheit am Rondenbarg nachgewiesen werden konnte.

Wie Fabio V. war auch Tim am Morgen des 7. Juli 2017 im Protestcamp im Volkspark Hamburg-Altona. Viele der Aktivist*innen hatten sich vorgenommen, die Zufahrtswege zum G20-Treffen zu blockieren. Tim erinnert sich genau an diesen Freitag im Juli. Bereits vor Sonnenaufgang spürten seine Genoss*innen die Anspannung. Viele rechneten mit einem besonders harten Vorgehen der Polizei, erzählt Tim.

Schon am Vorabend war es bei einer Demonstration am Hamburger Fischmarkt zu Ausschreitungen gekommen, nachdem die Polizei die Demonstration vor Beginn wegen angeblicher Auflagenverstöße aufgelöst hatte. »Da herrschte in Teilen richtige Panik«, sagt Tim. Selbst konservative Beobachter*innen stellten zu diesem Zeitpunkt die Verhältnismäßigkeit der polizeilichen Maßnahmen in Frage. Einen Tag später, am Freitagmorgen, sollten die Proteste friedlicher Natur sein. Die geplanten gewaltlosen Straßenblockaden der Aktivist*innen galten als Aktionen des »massenhaften Ungehorsams«. Für Tim seien sie eine Möglichkeit gewesen, »gegen den Imperialismus der Staaten zu demonstrieren«, die sich in Hamburg trafen.

Alles ging blitzschnell

Mehrere Gruppen setzten sich im Morgengrauen in Bewegung. Sie wollten die Zufahrtswege auf unterschiedlichen Routen erreichen. Die Aktivist*innen nennen das »Finger-Taktik«. Wie die Finger einer Hand sollen die Demonstrationszüge am Ende wieder zusammenfinden. Um sich untereinander erkennen zu können, geben die Demonstrierenden ihren Protestzügen unterschiedliche Farben. Tim und seine Freunde schlossen sich dem schwarzen Finger an.

Der schwarze Finger war noch nicht weit gekommen, da hörte Tim die Sirenen von Polizeifahrzeugen. Von vorne kamen Mannschaftswagen auf sie zu. Um einer Konfrontation aus dem Weg zu gehen, bogen die Demonstrierenden in den Rondenbarg ein, schildert Tim. Doch die Polizei war schneller und riegelte die Straße ab. »Das ging blitzschnell«, erinnert er sich. »Plötzlich waren vor uns die Wannen und hinter uns Wasserwerfer. Wir wurden geradezu überrollt. Ich habe bald danach einfach nur noch gehofft, nicht weiter verprügelt zu werden.« Tim hatte noch Glück. Er kam ohne schwere Verletzungen davon und wurde verhaftet. Andere traf es härter. »Irgendwann habe ich aufgehört, die Krankenwagen zu zählen«, so der Aktivist. »Für die Polizei waren wir keine Menschen mehr, einfach eine Masse, auf die sie einprügeln konnten. Es gab auch Verletzte mit Knochenbrüchen.«

Einige Demonstrationsteilnehmer*innen wollten über ein Baugerüst auf ein Privatgelände flüchten. Als es im Tumult einstürzte, verletzten sich mehrere von ihnen schwer. Teilweise mussten sie mit offenen Brüchen und Verdacht auf Wirbelverletzungen auf Liegen und mit Halskrausen abtransportiert werden. Viele der Einsatzkräfte machten auf Tim den Eindruck, als hätten sie Spaß an der Sache. So habe ein Polizist die am Boden liegenden Demonstrierenden mit seinem Privathandy gefilmt. Wofür er die Aufnahmen verwenden wolle, verriet er nicht. Als Tim versuchte, sein Gesicht, das auf den Asphalt gedrückt wurde, mit der Hand zu schützen, trat ihm ein Polizist auf die Finger. »Als würde er eine Zigarette ausdrücken«, sagt Tim. »Als ich ihn dann gefragt habe, was das soll, hat er mir drei Mal ins Gesicht geschlagen«, schildert Tim seine Misshandlungen. Während mehrere Verletzte direkt ins Krankenhaus kamen, unterzog die Polizei die verbliebenen Demonstrant*innen einer Erkennungsdienstlichen Behandlung. Besondere Sorgfalt hätten die Beamt*innen dabei nicht ans Werk gelegt, sagt Tim. »Viele der Sachen, die sie mir zugeschrieben haben, lagen einfach auf der Straße rum«, erinnert er sich. In den Asservatenlisten findet sich später auch Werkzeug von einer nahe gelegenen Baustelle. So sollen die Demonstrant*innen zum Beispiel eine Säge mit sich geführt haben.

Anschließend wurden die Gipfelgegner*innen in die Gefangenensammelstelle in Harburg gebracht, die anlässlich des G20-Gipfels in einem ehemaligen Baumarkt errichtet wurde. Dort durchsuchte man Tim ein weiteres Mal. Er musste sich vor mehreren Beamten komplett entkleiden. Er dachte, er würde abends wieder zu Hause sein. Tim blieb jedoch im richterlich verlängerten Gewahrsam. »Irgendwann verliert man jedes Zeitgefühl. Die Halogenlampe brennt die ganze Zeit, zu Essen gab es nur Knäckebrot und Wasser.« An Schlaf sei kaum zu denken gewesen. Alle halbe Stunde schaute jemand nach, »ob man noch lebt«. »Das war sehr zermürbend, dieser Schlafentzug«, so der Student. Erst am Sonntagabend, als der Gipfel und die Proteste vorbei waren, entließ man ihn. Dass weiter gegen ihn ermittelt wird, war Tim klar.

Fast zwei Jahre lässt sich die Staatsanwaltschaft Zeit, bis die ersten Briefe bei den Beschuldigten eingehen. Tim ist in diesem Moment fast schon erleichtert: »Endlich kann ich mit der Sache abschließen.« Ein Jahr später hat der Prozess gegen ihn noch immer nicht begonnen. Die Schwere der Taten, die ihm vorgeworfen werden, erstaunt ihn nach dem Prozess gegen Fabio V. nicht mehr.

Solidarität hilft

Die Staatsanwaltschaft hat im Herbst 2019 die Beschuldigten in acht Personengruppen aufgeteilt. So wird es voraussichtlich zu mehreren Prozessen gegen eine zweistellige Anzahl von Angeklagten kommen. Tim und seine Mitangeklagten wollen dem Gericht nicht vereinzelt gegenübertreten und haben sich zusammengeschlossen. Den Prozess verstehen sie als einen politisch motivierten Angriff auf die Versammlungsfreiheit. »Eine Verurteilung würde das Versammlungsrecht massiv einschränken«, sagt Tim. Ein Schuldspruch hätte weitreichende Konsequenzen für zukünftige Proteste und könnte die gesamte gesellschaftliche Linke massiv schwächen. Schließlich würde eine Verurteilung bedeuten, dass Demonstrant*innen auch für das Verhalten anderer Demonstrationsteilnehmer*innen bestraft werden können. »Im Prinzip bedeutet das die Aushebelung rechtsstaatlicher Prinzipien bezüglich der Versammlungsfreiheit«, sagt Tim.

Auch wenn kaum noch jemand über das Gipfeltreffen in Hamburg spricht, ist G20 für Tim nach drei Jahren noch immer nicht abgeschlossen. Während Gipfelgegner*innen angeklagt sind, weil sie sich auf Hamburger Straßen bewegten, sind nahezu alle Fälle von Polizeigewalt nie zur Anklage gekommen. »Bei G20 hat man gesehen, dass die Polizei machen kann, was sie will.« Was ihm gerade helfe? »Solidarität«, sagt Tim.

*Name auf Wunsch geändert