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Gewalteinsatz gegen Abschiebungsgegner rechtswidrig

Gericht: Wenn Beamte jemandem Schmerzen zufügen wollen, müssen sie dies vorher ankündigen

  • Reimar Paul
  • Lesedauer: 3 Min.

Ein äußerst ruppiger Einsatz der Göttinger Beweissicherungs- und Festnahmeeinheit (BFE) der Polizei im Frühjahr 2014 gegen Abschiebungsgegner war rechtswidrig. Das hat das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht (OVG) in einem am Donnerstag bekanntgemachten Urteil festgestellt. Es bestätigte eine Entscheidung des Verwaltungsgerichts (VG) Göttingen vom Mai 2019 - und wies die Berufung der Polizei ab.

Am frühen Morgen des 10. April 2014 hatten Dutzende Menschen gegen die von der Stadt Göttingen angeordnete Abschiebung eines Mannes aus Somalia protestiert und dabei zeitweise das Treppenhaus des Hauses blockiert, in dem der Flüchtling wohnte. Die Göttinger BFE räumte unter Einsatz erheblicher Gewalt den Treppenbereich.

Über ein Dutzend Menschen seien durch Faustschläge, Schmerzgriffe, Hundebisse und Pfefferspray im geschlossenen Treppenhaus verletzt worden, berichteten schon damals Augenzeugen. »Die BFE drang nicht nur durch eine Parterrewohnung in das Haus ein, sondern sie schleppte auch Dutzende zum Teil verletzte und bewusstlose Menschen durch das Fenster des Kinderzimmers hinaus, in dem sich sowohl Mutter als auch Kind zu dieser Zeit befanden«, so die Rote Hilfe, ein Verein, der linke Aktivisten unterstützt.

Die Grüne Jugend Göttingen beschrieb den Einsatz als »beängstigend und vollkommen skrupellos«. Protestierende, die sich untergehakt hatten, seien »geschubst, geschlagen, mit Schmerzgriffen traktiert und in mehreren Fällen die Kellertreppe heruntergeworfen« worden. Mehrere Demonstranten hätten Beulen, Prellungen und Blutergüsse davongetragen. Die Abschiebung wurde unmittelbar nach dem Einsatz abgebrochen.

Die zunächst vom Verwaltungsgericht verhandelte Klage eines heute 28-Jährigen, der an den Protesten beteiligt war, richtete sich gegen den unmittelbaren und unangekündigten Einsatz von Reizgas im Treppenhaus sowie gegen den Einsatz unverhältnismäßiger Gewalt in Form von Schmerzgriffen und Faustschlägen gegen seinen Kopf. Durch Reizgas und Schläge hatte der Mann zwischenzeitlich das Bewusstsein verloren und musste von Sanitätern behandelt werden. Im OVG-Beschluss steht dazu: »Im Verlauf schlug der Beamte zweimal mit der Faust nach dem Gesicht des Klägers.« Ein weiterer Beamter habe den Kläger »mit einem Kopfkontrollgriff unter Kontrolle« gebracht und ihn zum Treppenabgang gebracht, »wo beide stürzten und die Treppe hinabfielen«. Nachdem der Kläger über ein Kellerfenster ins Freie gebracht worden sei, sei er zusammengebrochen.

Dem Verwaltungsgericht zufolge muss die Polizei jedoch die bewusste und gewollte Zufügung erheblicher Schmerzen im Rahmen der Anwendung unmittelbaren Zwanges gesondert und konkret vorher androhen. Dies war nicht erfolgt, so dass der Einsatz bereits aus formalen Gründen rechtswidrig war. Diese Bewertung hat das OVG nun bestätigt und die Polizeidirektion in seinem Beschluss rechtlich belehrt. Die Polizei hatte in ihrer Berufung gegen den VG-Beschluss noch von Formalismus gesprochen.

Zur Verhältnismäßigkeit der Anwendung von Reizgas in geschlossenen Räumen gegen eine größere Menschengruppe und die Anwendung von Schmerzgriffen sowie Faustschlägen, um die Blockade eines Treppenhauses zu lösen, hatte sich schon das Verwaltungsgericht nicht mehr äußern müssen. »Wir hätten uns gefreut, wenn auch über die Frage der Verhältnismäßigkeit der Gewalt der Göttinger BFE an diesem Tag hätte entschieden werden können«, so Sven Adam, Anwalt des 28-Jährigen. Dies werde nun voraussichtlich das Landgericht Göttingen in der geplanten Schmerzensgeldklage würdigen müssen, kündigte Adam weitere rechtliche Schritte an.

Die Polizei hatte die Ereignisse von 2014 anders bewertet: Einige Blockierer hätten sich der Räumung massiv widersetzt, die Beamten hätten daraufhin Pfefferspray eingesetzt. Vier Polizisten seien beim Einsatz verletzt worden, einer sei vorübergehend dienstunfähig gewesen. Drei gegen die Abschiebegegner angestrengte Prozesse endeten allerdings mit Freisprüchen. Weitere Ermittlungsverfahren - unter anderem gegen den jetzt erfolgreichen Kläger - wurden eingestellt.

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