nd-aktuell.de / 29.08.2020 / Sport / Seite 29

Neue Normalität

Tour der France: Wie Corona den Radsport verändert.

Tom Mustroph , Nizza

Die Corona-Pandemie beeinflusst nicht nur die aktuelle Radsportsaison. Die Tour de France ist vom klassischen Monat Juli in den August und September verschoben worden - zum ersten Mal in der Geschichte der Rundfahrt. Das dürfte weniger Zuschauer an die Strecke bringen. In Frankreich gehen die Ferien zu Ende: Kinder müssen wieder in die Schule, Berufstätige an den Arbeitsplatz, selbst wenn der in vielen Fällen weiterhin die eigene Küche oder den Hocker am Bett als Basis für die Telearbeit bedeutet. Auch weniger internationale Gäste werden erwartet. »Es ist nicht ratsam für niederländische Fans, jetzt zur Tour zu kommen«, warnte bei der Pressekonferenz des Teams Jumbo-Visma etwa Co-Kapitän Tom Dumoulin seine Landsleute. Die, die dennoch kommen, forderte der einstige Giro-Sieger eindringlich zum Tragen einer Maske auf.

Die Auswirkungen der Pandemie sind aber nicht nur auf die aktuelle, die 107. Ausgabe der Tour de France, beschränkt. Auch der eigentlich in Kopenhagen geplante Grand Depart der Tour 2021 wurde bereits in die Bretagne verlegt. Dänemarks Hauptstadt ist schon Austragungsort der wegen Corona aufs Folgejahr verschobenen Europameisterschaft im Fußball. Das Dirigieren der Menschenmassen, die vom runden Leder fasziniert sind, und zusätzlich derjenigen, die sich an blitzenden Speichen erfreuen, erschien den Stadtvätern Kopenhagens als zu komplex. Ohnehin weiß niemand, wie im Sommer 2021 die Coronalage sein wird. Eine Verlegung in die eher bevölkerungsarme Bretagne macht da Sinn. Zumal sich die Region bereits als Startort für das Jahr 2022 in Stellung gebracht hatte.

Angemessener im Hinblick auf das »new normal« - die neue Normalität im Leben mit der Virusbedrohung - ist auch der mit der Startverlegung einhergehende Verzicht auf Transferflüge von Peloton und Tross. Schon bei der aktuellen Tour, die zwei längere Transfers vorsieht, wird auf den Transport mit Flugzeugen verzichtet. Das würde die Hygieneblasen platzen lassen. Die Teams reisen in ihren Bussen und Begleitfahrzeugen. Selbst die Hubschraubertrips, die den großen Stars von Lance Armstrong bis Chris Froome vor allem am Ende von Bergankünften zugute kamen, fallen den aktuellen Coronaregeln zum Opfer. Und eine Konzentration der Tour aufs Mutterland Frankreich auch im Folgejahr entspricht auch logistisch den Szenarien für ein Andauern der Pandemie.

Auch sportlich könnte die Frankreichrundfahrt 2021 eine neue Philosophie bestärken. Bei der Vorstellung von Brest als Ort des Grand Depart ließ Tourchef Christian Prudhomme durchblicken, dass man auf einen Prolog zum Einrollen erneut verzichten könnte. Beim letzten Bretagne-Start im Jahr 2008 wurde zum ersten Mal seit 1967 der klassische Prolog gestrichen. Danach war das häufiger der Fall. Auch die aktuelle Tour startet an diesem Sonnabend mit einer »echten« Etappe rund um Nizza. Und die zweite Etappe hat mit dem Col de Turini bereits einen echten Hammerberg im Programm. An den Serpentinen dort machte sich bislang Chris Froome für seine Siege bei Tour, Giro und Vuelta fit. Der Brite ist aus Formgründen diesmal nicht dabei - sein Übungsanstieg aber ist heftig. Und die Abfahrt hat es ebenfalls in sich.

Auch da lassen sich Parallelen zum Folgejahr erkennen. Denn die die bretonische Landschaft ist für ihre knackigen Hügel und vor allem die vom Meer her wehenden heftigen Winde bekannt. Das verspricht ebenfalls härteste Anstrengungen. Die Streckenplaner der Tour verlassen ohnehin immer mehr das eingefahrene Muster von der »Einrollwoche«, bevor es dann in die Alpen oder Pyrenäen geht. Sie folgen damit ihren Kollegen von der Italien- und Spanienrundfahrt. Die haben schon früher damit experimentiert, heftige Anstiege bereits in die erste Woche zu platzieren. Das bringt einerseits mehr Spannung im Kampf um das Gelbe Trikot. Es kann aber auch dafür sorgen, dass schon recht früh Anwärter auf den Gesamtsieg all ihre Hoffnungen begraben müssen. Renndramaturgisch stellen die frühen Schwierigkeiten also ein Vabanquespiel dar.

Von den Klassementfahrern erfordert diese Neuorientierung vor allem körperliche Fitness und geistige Frische von Beginn an. Vorbei sind die Zeiten, in denen sich ein Jan Ullrich in der ersten Woche noch auf Betriebstemperatur bringen konnte, um später dann die Berge mit mächtigem Tritt anzugehen. Gefragt sind nun auch Fahrertypen, die auf verschiedensten Strecken gut zurecht kommen. Das dürfte ein Vorteil für die rundum ausgebildeten Geländefahrer sein. Julian Alaphilippe ist so ein Typ, Wout van Aert auch. Und natürlich Multitalent Mathieu van der Poel. Ein Schelm, wer jetzt vermutet, die Tourväter bauen Jahr für Jahr mehr an einem Parcours, der dem Enkel des »ewigen Zweiten« Raymond Poulidor wie auf den Leib geschneidert ist. Van der Poels Vater Adrie, selbst ein Profi mit Siegen bei Klassikerrennen auf der Straße und einem WM-Titel im Cyclocross, heiratete einst Poulidors Tochter Corinne. Es mischten sich ganz besondere Radsportgene. Mathieu van der Poel hat zumindest für die Zukunft auch Ambitionen auf Siege bei den großen Rundfahrten geäußert. Den genauen Streckenverlauf der Frankreichrundfahrt 2021 wird man aber erst im Oktober erfahren. Dann ist zumindest die diesjährige Tour zu Ende, der Giro d’Italia, die klassische Frühjahrsrundfahrt, aber noch in vollem Gange. Neue Normalität eben.