nd-aktuell.de / 18.07.2020 / Kultur / Seite 37

»Wer sind denn die da?«

Barbaros Altuğ spürt den Leichen im Keller der Türkischen Republik nach

Meliha

Dass Meliha Saraçoğlu tot war, bemerkten ihre Nachbarn einen Tag darauf. Seit ihr Mann Hamit Bey, Oberstleutnant a.D. und Veteran des Befreiungskriegs, vor zehn Jahren an einem Herzinfarkt verschieden war, hatte Meliha Hanım allein gelebt. Als sie starb, war sie 73 Jahre alt. Sie hatte keine nahen Angehörigen, und wenn doch, so waren sie niemals zu Besuch gekommen. Beigesetzt wurde sie von ihrer Gemeinde nach dem Freitagsgebet. Es wurden Fürbitten gesprochen, man ging stumm zum Friedhof, und danach geriet Meliha Hanım wie alle Verstorbenen allmählich in Vergessenheit. Ihr Gesicht schwand den Leuten aus dem Gedächtnis, so wie ihre Stimme es längst getan hatte. Als Meliha Saraçoğlu starb, war ich noch nicht geboren. Erst Jahre später, als ich ihre schwarz-weißen Jugendfotos sah, fiel mir auf, wie sehr wir uns ähnelten, und ich wurde von einer eigentümlichen Freude ergriffen. Dabei hatte Meliha Hanım gewiss kein erfreuliches Leben gehabt. Sonst hätte sie sich im Alter von 73 Jahren in ihrem Haus in Şişli, wo sie seit Jahren allein gelebt hatte, wohl kaum erhängt, und noch dazu ganz ohne Abschiedsbrief. Davon, dass Meliha Saraçoğlu gelebt hatte und dass sie gestorben war, erfuhr ich an ein und demselben Tag. Wie auch von einigen anderen Dingen, die ich bis dahin noch nicht gewusst hatte.

Der Geruch

Wir saßen einander gegenüber, tranken und erzählten in einem fort. Es schien, als müssten wir durch unser Gespräch eine Distanz überbrücken, die jemand zwischen uns geschaffen hatte. Je länger wir uns unterhielten, desto näher kamen wir einander. Irgendwann fiel mir auf, wie sehr meine Freundin inzwischen ihrem Großonkel ähnelte. »Man vergisst alles, nur nicht den Geruch eines Menschen«, sagte Belinda. »Immer wenn ich ins Haus meiner Oma komme, ist da noch ihr Geruch. Inzwischen lebt meine Mutter dort, aber sie bekommt ihn anscheinend auch nicht weg. Diesen Geruch nach Teig, Feuchtigkeit, Kölnisch Wasser, nach ihr selbst eben. Nach Hayganuş.«

»Ich hatte nie eine Oma«, sagte ich. Sie war bei der Geburt meines Vaters gestorben, kein Foto, keinerlei Andenken. Mein Vater sprach über so etwas nicht. Meine Mutter wich immer aus, wenn ich sie fragte. Und ihre Familie war ohnehin stets weit weg.

»Komm doch morgen zu uns«, sagte Belinda plötzlich. »Dann lernst du meine Mutter kennen und nebenbei auch den Geruch von meiner Oma.« Während sie das sagte, lachte sie. »O je, ich spreche schon wie eine Geisterbeschwörerin. Meine Mutter schafft es sowieso, mit dem Essen, das sie kocht, den Geruch zu überdecken. Vielleicht finden wir auch ein Andenken für meinen Großonkel, für den ist es ja auch schade.«

Das Haus

Es war wirklich ein Geruch, der mich empfing, kaum dass wir unsere Schuhe ausgezogen hatten und ich eingetreten war. Doch war es, wie Belinda gesagt hatte, eher der Geruch des Essens, das ihre Mutter für uns gekocht hatte, als der ihrer Oma. Belindas Mutter streckte ihren Kopf aus der Küche, in der es dampfte und verführerisch duftete. »Es freut mich, dass ihr gekommen seid. Geht schon mal vor, ich komme gleich nach.« Bei diesen Worten behielt sie ihren Kochlöffel in der Hand und rührte weiter konzentriert in ihren Töpfen, wohl darauf wartend, dass wir in den Salon gingen und sie sich wieder ganz ihrer Arbeit widmen könne. Nachdem Hayganuş und - lange davor, in relativ jungen Jahren schon - auch ihr Mann gestorben waren, hatte Belindas Mutter das Haus, in dem sie mit ihrer Tochter gewohnt hatte, Belinda überlassen - vielleicht, damit diese fortan ihr eigenes Leben führen konnte -, und war ins Haus ihrer Mutter gezogen. »Es ist, als wäre ich hier aufgewachsen«, sagte sie, während sie ihren Blick fast heiter durch den Salon wandern ließ, in dem wir jetzt saßen. »Es geht doch nichts über den Ort, an dem man als Kind zu Hause war. Ich liebte ihren Vater, Gott hab ihn selig, aber eine Mutter ist die beste Freundin, also seid froh, dass ihr uns habt.«

»Ampfersuppe«, sagte sie dann und zeigte auf die Teller, aus denen wir zu löffeln begonnen hatten. »Ist auch als Mönchsrhabarber bekannt.« Beide Namen hörte ich zum ersten Mal. Doch danach gab es Keşkek, was sowohl meine Mutter als auch die Mutter meiner Mutter an Feiertagen oder für besondere Gäste gerne gekocht hatten. »Bei uns heißt es Harisa, bei euch Keşkek. Aber wir leben so eng beieinander, was heißt da schon meins oder deins. Lass es dir schmecken, Mädchen.«

Nachdem sie, ohne allzu sehr zu bohren, wie eine Katze, die jeden ihrer Schritte wohl bedachte, mit ein paar vorsichtigen Fragen alles über mich in Erfahrung gebracht hatte, was sie wissen wollte, sagte sie: »Wenn ich den Tisch abgeräumt habe, setze ich Tee auf, und kommt bloß nicht auf die Idee, mir zu helfen, das mag ich nicht.« Dann verschwand sie mit den Tellern in der Küche. »Sie mag das wirklich nicht, die Küche ist ihr eigenes Reich, sogar das Frühstück bereitet sie immer dort vor und lässt niemanden herein. Eine Angewohnheit, die sie von Hayganuş übernommen hat, die war genauso.«

Auf Schwarz-Weiß-Fotos an den Wänden eine junge Hayganuş, mal im schneeweißen Kleid in einem Fotostudio, daneben eine Reihe von Freundinnen, mal mit einem deutlich älteren, aber stolz und aufrecht auf einem Stuhl sitzenden Mann, ihrem Ehemann. Auffällig lange, schwarze Haare. »Als sie geheiratet haben, gaben ihr die Nachbarn den Namen Hayriye, du weißt ja, wie mein Opa war. Aber in ihren Glauben hat er sich nie eingemischt, und zu Hause hieß sie immer Hayruş. Er hat sie eben sehr geliebt. Und meine Oma sagte immer, mit der Zeit hätte sie sich an ihn gewöhnt.«

»Schälen wir noch ein wenig Obst«, sagte Belindas Mutter in diesem Moment und stellte Teller mit Äpfeln und Birnen vor uns hin. »Ist gut für die Verdauung.« Ich lächelte in mich hinein: Hierzulande haben die Menschen stets einen guten Vorwand, noch etwas mehr zu essen.

Erinnerungen

Sie mochte mich, das weiß ich. Sie sagte es nicht oft, aber ich konnte es spüren», sagte Belindas Mutter, während sie die Äpfel schälte und für uns in Scheiben schnitt. Wir waren in die Fotoalben versunken, die Belinda herausgesucht hatte. «Natürlich konnte ich nicht über alles mit ihr reden, dazu war sie zu verschlossen. Aber wozu auch? Hätte sie sich den Liebeskummer eines Teenagers anhören sollen? Wie hätte sie das denn ernstnehmen können - nach allem, was sie selbst durchgemacht hatte.»

«Gleichzeitig musste sie ja noch versuchen, mit der Sippe meines Vaters zurechtzukommen.» Sie reichte mir mit ihren faltigen und doch zarten Händen den ersten fertigen Teller. Am Finger trug sie noch immer ihren Ehering. «Sie bemühte sich andauernd, sich beliebt zu machen. Als ob niemand sie hätte lieben können, wie sie war. Sie glaubte, sie müsste sich dafür richtig ins Zeug legen.»

«Als mein Vater dann bettlägerig wurde, ist sie zwei Jahre lang jeden Tag unverdrossen in aller Frühe aufgestanden, hat weiße Leinentücher eingeseift und seinen ganzen Körper von Kopf bis Fuß gewaschen. Er sah gar nicht so aus, als ob er ans Bett gefesselt wäre, sondern eher so, als wäre er gerade aufgewacht, hätte frisch geduscht und würde demnächst frühstücken. Bis zu seinem Tod hatte er nie eine wunde Stelle. Obwohl sie bei seinem Tod noch relativ jung war, hatte sie nie auch nur in Erwägung gezogen, wieder zu heiraten. »Der ist nichts für mich«, sagte sie immer, wenn Nachbarinnen und Freundinnen ihr in den ersten Jahren noch mögliche Heiratskandidaten aufschwatzen wollten. Als sie später einmal einen entfernten Verwandten ihres Mannes regelrecht aus dem Haus gejagt hatte, wahrscheinlich, um ihn für immer zu vergraulen, wagte niemand mehr, das Wort Heirat auch nur in den Mund zu nehmen.»

«Wer sind denn die da?», fragte ich und zeigte in dem offen vor uns liegenden Album auf ein rechteckiges Schwarz-Weiß-Foto mit gezacktem Rand. Sie beugte sich herüber und musste lächeln. «Das sind die, die geblieben sind», sagte sie. Die, die geblieben sind … die sich gerettet haben, die Türken geheiratet haben, die aus derselben Gegend kamen. Sieben gleich gekleidete Frauen, nebeneinander auf Stühlen in einem Fotostudio sitzend. «Ich war noch zu klein, um mich richtig daran zu erinnern. Meine Mutter hat mir davon erzählt. Das Foto entstand, bevor wir hierher gezogen sind.» Sie wischte ihre Hand an einer weißen Serviette ab, löste das Foto vorsichtig aus den Ecken, an denen es befestigt war, und drehte es um. «Auf jedes Foto hat sie etwas notiert, auf türkisch und auf armenisch. 1930, Gaziantep. Sie hat jeden einzelnen Namen hingeschrieben. Später haben sie sich alle verstreut. Ich erinnere mich nur noch an Tante Selma. Die ist dann aber irgendwann zu ihrem Sohn nach Los Angeles gezogen.» Sie gab mir das Foto, damit ich es wieder ins Album tat. Da hatte ich die Idee, Hayganuş in die Geschichte einzubringen, die ich für die Zeitschrift schreiben wollte. «Warum nicht», sagte Belindas Mutter.

Während sie die fünf oder sechs Fotos, die ich aus dem Album genommen hatte, in einen gelben Umschlag steckte, fügte sie hinzu: «Aber das sind wichtige Erinnerungen für uns, du passt doch gut auf sie auf, oder?» Ich sagte, dass ich noch am gleichen Abend anhand der Fotos meine Geschichte skizzieren würde, morgen würde Belinda mir dabei helfen, die Fotos einzuscannen, und dann würde ich sie ihr alle zurückgeben. Mir war, als hätte ich die Geschichte, die ich erzählen wollte, endlich gefunden. Unwillkürlich erwachte ein warmes Gefühl für Emmanuelle in mir, wegen der ich überhaupt hier war. Es hat eben alles auch seine guten Seiten, hätte Tante Nimet gesagt. Vielleicht hatte sie sogar recht.

Barbaros Altuğ:
Sticht in meine Seele[1]
Aus dem Türkischen von Johannes Neuner
Orlanda-Verlag
152 S., kt., 16,00 €

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