nd-aktuell.de / 31.08.2020 / Kultur / Seite 13

Wo fliegen all die Mücken hin?

René Hamann stellt sich die wichtige Frage: Was passiert, wenn die Stechmücken satt sind?

René Hamann

Mittlerweile ist es ein festes Ritual. Bevor ich mein Haupt sanft bette, um mich schlafen zu legen, inspiziere ich mit dem alten Badmintonschläger, der schon seit über 20 Jahren nicht mehr aus seiner Hülle geholt wurde, die Wände meines Schlafgemachs. Die sind beklebt mit einer abgehalfterten weißen Raufasertapete, Flecken und Blutspuren vergangener Massaker inklusive.

Mir entgeht nichts. Ich trage Brille, seit ich 33 bin, ich kann eine Eintagsfliege von einer Stechmücke unterscheiden und einen Falter von einer Spinne. Mein verhüllter Badmintonschläger trifft wuchtig da, wo weiche Taschenbücher nicht hinkommen. Ich bin gefeit.

Und doch ist mir neulich nachts wieder eine Mücke ums Ohr gesummt. Nicht sehr intelligent, diese Insekten, wäre nicht ein geräuschloser Antrieb klüger gewesen? Menschen erwachen, wenn man um ihre Ohren herum sirrt. Und mit dem Menschen erwacht der Jagdtrieb. Der oft genug mit dem Tod der Mücke, hingequetscht auf der falben Raufaser, endet.

Offen bleibt meist nur die Frage, woher die Mücke überhaupt gekommen war. Durch den kleinen Spalt, den ich der Schlafzimmertür lasse, vorher durch das gekippte Küchenfenster? Mücken riechen die Menschen aufgrund des hohen Stickstoffausstoßes, sagt man mir, auf Licht reagieren sie eher ausweichend, sie sind nachtaktiv. Lüften also immer mit voller Beleuchtung (was im Sommer allerdings Motten und Falter anzieht).

Also finden sie immer ihren Weg? Was ist mit denen, die den eigenen, feigen Luftangriff überleben? Was ich mich schon immer gefragt habe: Wo fliegen all die Mücken hin? Wie oft wollen oder müssen sie stechen, reicht einmal in der Stunde? Und was passiert, wenn sie satt sind? Sitzen sie für immer träge an der Wand oder geht es irgendwann auch mal nach Hause? Und wo wäre das und wie finden sie hin? Vielleicht ist ihr zu Hause ja irgendwo hoch im Norden oder tief im Osten, stelle ich mir vor. In Lappland oder in Sibirien.

Eine der schrecklichsten Dokumentationen, die ich je gesehen habe, behandelte die immer noch existierenden sibirischen Straflager in Russland. Dass dort im Winter haushoch Schnee liegt, wusste ich. Ein Auto gestartet zu bekommen, ist da harte Arbeit, und in die Luft geworfener heißer Kaffee kommt gern als brauner Schnee wieder herunter. Dass es im Sommer allerdings keine Unbeschwertheit, sondern eine dauerhafte Mückenplage gibt, gegen die man sich mit Schleiern und Ganzkörperverhüllung schützen muss, war mir nicht klar. Die Leute dort befanden sich, mit anderen Worten, in der Dauerhölle: Kälte oder Mücken. Im Exzess.

Eines der schrecklichsten Bücher, die ich je gelesen habe, handelt von einer Reise dorthin, im ausgehenden 19. Jahrhundert. Anton Tschechow hat es geschrieben, es heißt »Die Insel Sachalin« und handelt davon, dass er viertausend Kilometer durch Sibirien auf Pferdefuhrwerken zurücklegt, weil es die Transsibirische damals noch nicht gab. Wer mal nachlesen möchte, was anstrengendes Reisen bedeutet, sollte zu diesem Buch greifen. Wer von Reiselust geplagt ist, auch: Sie vergeht einem bereits nach wenigen Seiten.