nd-aktuell.de / 29.08.2020 / Kultur / Seite 12

Unter Verdacht

Hafturteile, Selbstzensur und Geldstrafen: Wie steht es um die Presse- und Kunstfreiheit in Russland?

Norma Schneider

Wer in Russland die Regierung kritisiert, lebt gefährlich. Das gilt nicht nur für oppositionelle Politiker*innen wie Alexej Nawalny, sondern auch für Künstler*innen und Journalist*innen. Auf der internationalen Rangliste der Pressefreiheit steht das Land aktuell auf Platz 149 von 180. Offiziell ist Zensur zwar verboten, doch die Medienaufsicht kann unliebsame Inhalte löschen und Einschüchterungen, die zu Selbstzensur führen, sind ein großes Problem.

Die Regierung unter Präsident Vladimir Putin ist an einem bestimmten Bild Russlands in der öffentlichen Wahrnehmung interessiert. Dieses Bild zeigt ein mächtiges, heldenhaftes Land mit einem starken Anführer, der sich von niemandem etwas sagen lässt. Die Bürger*innen dieses Landes sind stolze Patriot*innen, die für Heimat, Gott und Familie leben, traditionelle Werte und Rollenbilder hochhalten und auf keinen Fall homosexuell sind.

Dieses Narrativ wird selbstverständlich von vielen im Land infrage gestellt. Doch wer das öffentlich tut, muss damit rechnen, in seiner Arbeit behindert, bestraft oder angegriffen zu werden. Gefängnis, Geldstrafen oder Verbote von Aufführungen, Publikationen und Webseiten sind keine Seltenheit. Unter Umständen kann einem kritische Berichterstattung sogar das Leben kosten. Die Journalistin Anna Politkowskaja wurde 2006 erschossen, nachdem sie bereits einen Giftanschlag überlebt hatte. Ihre Berichte über Kriegsverbrechen der russischen Armee im Tschetschenienkrieg waren vielen ein Dorn im Auge. Auch auf Pjotr Wersilow, Mitglied des Künstler*innenkollektivs Pussy Riot und Herausgeber des kritischen Internetportals »Mediazona«, wurde 2018 ein lebensgefährlicher Giftanschlag verübt.

In den letzten Monaten kam es wieder vermehrt zu Repressionen gegen Künstler*innen und Journalist*innen. Mit der Verfassungsänderung, die im Juli in Kraft trat, hat Putin seine Macht gefestigt und die Hoffnung auf Veränderungen und Demokratisierung in noch weitere Ferne gerückt. Doch die Zustimmung für Putin schwindet, die in ihm personifizierte Erzählung von einem starken, siegreichen Russland schafft es immer weniger, von den oftmals sehr schlechten Lebensbedingungen der Menschen abzulenken. Die kritischen Stimmen, die an die Probleme erinnern und die wachsende Unzufriedenheit sichtbar machen, werden deshalb vermehrt unterdrückt.

Eine verstärkte Einflussnahme der Regierung auf die Medien sowie ein Zuwachs an Repressionen sind schon seit 2011 wahrzunehmen. Damals kam es zu größeren Protesten gegen eine weitere Amtszeit Putins. Im Februar 2012 sangen Mitglieder von Pussy Riot in der Christ-Erlöser-Kathedrale in Moskau ein Protestlied gegen die Verquickung von Staat und Kirche. Der anschließende Prozess, in dem Nadeschda Tolokonnikowa und Marija Aljochina zu mehreren Jahren Straflager verurteilt wurden, lässt sich als moderne Form des Schauprozesses bezeichnen, der demonstrieren sollte, dass der Kunst ein solcher Tabubruch nicht erlaubt wird.

Doch was als Tabubruch gewertet wird und wen solche Repressionen treffen werden, lässt sich im Vorhinein oft nur schwer einschätzen. Die Grenzen sind fließend, die Gesetze nicht eindeutig formuliert. So entsteht ein Klima der Angst und Unsicherheit, da nie deutlich scheint, was erlaubt ist und was nicht, ob man zum Beispiel für ein Kunstprojekt ins Gefängnis kommt oder im Gegenteil staatliche Fördergelder erhalten wird.

Betrachtet man die aktuellen Fälle strafrechtlicher Verfolgung von Künstler*innen und Journalist*innen, lassen sich zwei verschiedene Strategien ausmachen. Im ersten Fall wird eine Publikation oder ein Kunstwerk zum Gegenstand der Anklage. In der betreffenden Arbeit wird etwas Anstößiges ausgemacht, worauf sich ein Gesetz anwenden lässt, das die Verbreitung bestimmter Inhalte verbietet. Dazu zählen etwa Pornografie, Extremismus, Beleidigung religiöser Werte, Respektlosigkeit gegenüber dem Staat, Fake News sowie die Thematisierung von Homosexualität oder Drogen gegenüber Minderjährigen. Diese Gesetze sind so vage formuliert, dass sie nach Belieben ausgelegt werden können. Kritische Kunstwerke oder Medieninhalte können so verboten und ihre Urheber*innen bestraft werden, aber auch Nutzer*innen von Social Media, die bestimmte Beiträge teilen oder liken, werden auf der Basis solcher Gesetze strafrechtlich verfolgt.

Während der Pandemie haben die Anklagen wegen der Verbreitung angeblicher Fake News stark zugenommen. Betroffen waren die Zeitungen »Nowaja Gazeta« und »Kommersant« sowie der Radiosender Echo Moskwy. Sie hatten die offiziellen Zahlen der Covid-19-Toten in ihren Berichten angezweifelt. Das Fake-News-Gesetz droht zu einem sehr wirksamen Mittel geben unliebsame Stimmen zu werden. Mit ihm kann quasi jede Aussage, die den Angaben der Regierung widerspricht, zur Straftat werden.

Bei der zweiten Strategie gegen Künstler*innen und Journalist*innen richtet sich die Anklage nicht gegen bestimmte Veröffentlichungen, sondern gegen die Person selbst. Sie wird einer Straftat beschuldigt, die mir ihrer Arbeit nichts zu tun hat. Diese Anschuldigungen sind häufig konstruiert und der eigentliche Grund der Verhaftung liegt wahrscheinlich woanders. So wurden im vergangenen Jahr dem »Meduza«-Journalisten Iwan Golunow von der Polizei Drogen untergeschoben, um ihn anschließend zu verhaften.

Internationale Aufmerksamkeit erlangen meistens nur die spektakulären Fälle mit hohen Gefängnisstrafen für Journalist*innen und Künstler*innen. Doch viel größer ist die Zahl derjenigen, die beständig mit Schikanen wie Verhören, Hausdurchsuchungen, Löschungen von Artikeln im Internet und Geldstrafen zu kämpfen haben. Dass dennoch viele unbeirrt weitermachen, neue kritische Medien gründen und Wege finden, ihre unbequeme Kunst zu zeigen, gibt Anlass zur Hoffnung.

Juri Dmit

Der 64-jährige Historiker und Menschenrechtler Juri Dmitrijew hat es sich zur Aufgabe gemacht, stalinistischen Terror zu dokumentieren und den damaligen Opfern Namen zu geben. Der Vorsitzende der Menschenrechtsorganisation »Memorial« in Karelien entdeckte mehrere Massengräber, unter anderem in Sandarmoch, wo über 6000 Menschen vom NKWD erschossen wurden. Dank Dmitrijew konnten die Opfer identifiziert werden und eine Gedenkstätte eingerichtet werden. Der Staat unterstützt solche erinnerungspolitischen Aktivitäten bis zu einem gewissen Grad und hat selbst ebenfalls Gedenkstätten und Museen zu stalinistischem Terror eingerichtet. Die Aufarbeitung der Vergangenheit nimmt jedoch kaum Raum im öffentlichen Bewusstsein ein und man beschäftigt sich von offizieller Seite nicht mehr als nötig mit dem Thema. In den letzten Jahren wird die Sowjetnostalgie stattdessen medial wieder stärker forciert: Die UdSSR wird dabei zu einer recht vagen Idee von guter alter Zeit, an die man sich gerne erinnert. Diese Erinnerung ist aber losgelöst von politischen und wirtschaftlichen Aspekten, wie etwa Unfreiheit, Repressionen, Wirtschaftsweise oder sozialistische Idealen. Es wird fokussiert auf den Sieg im Zweiten Weltkrieg und den Status als Weltmacht. Auch die Rolle Stalins wird glorifiziert: Er habe das Land zu Sieg und Größe geführt.

Wer diesem Narrativ etwas entgegensetzt, wird schnell zum Störfaktor für eine Regierung, die die Kontrolle über die Erinnerung behalten will. Deshalb ist davon auszugehen, dass der Prozess, der im Juli gegen Dmitrijew geführt wurde, politisch motiviert war und dazu dienen sollte, eine unliebsame Stimme zum Schweigen zu bringen. Bereits 2018 wurde Dmitrijew verhaftet und wegen illegalem Waffenbesitz und dem von Kinderpornografie vor Gericht gebracht. Da ihm nichts nachgewiesen werden konnte, wurde er freigesprochen, nur um kurz darauf wieder verhaftet zu werden. Diesmal lautete der Vorwurf sexueller Missbrauch seiner Adoptivtochter. Ob diese Vorwürfe berechtigt sind, lässt sich von außen nur schwer beurteilen,. Die Anklagepunkte sind voller Widersprüche und klare Beweise konnten keine vorgelegt werden. Human Rights Watch geht von einem inszenierten Fall aus und auch die Europäische Union forderte Dmitrijews Freilassung. Immerhin wurde er nicht zu den von der Staatsanwaltschaft geforderten 15 Jahren Straflager verurteilt, sondern »nur« zu dreieinhalb Jahren Gefängnis, auf die die lange Untersuchungshaft angerechnet wird.

Die Zeitung »Wedomosti«

»Wedomosti« galt lange als eine der wenigen großen, seriösen Zeitungen Russlands. Neben einem Fokus auf Wirtschaft berichtete das Traditionsblatt auch kritisch über Politik und Gesellschaft. Im März wurde die Zeitung an einen neuen, kremlnahen Eigentümer verkauft und der bisherige Chefredakteur entlassen. Als sein Nachfolger wurde kommissarisch Andrej Schmarow eingesetzt. Zwischen Schmarow und der Redaktion kam es schnell zu Konflikten. Nach Angaben der Organisation Reporter ohne Grenzen änderte er Überschriften sinnentstellend und löschte einen kritischen Kommentar über den staatlichen Konzern Rosneft. Außerdem soll er der Redaktion verboten haben, Meinungsumfragen des anerkannten unabhängigen Lewada-Zentrums zu veröffentlichen oder kritisch über die Verfassungsänderung zu berichten, die es Putin ermöglicht, bis 2036 im Amt zu bleiben. Mitte Juni wurde Schmarow endgültig als neuer Chefredakteur bestätigt, woraufhin alle leitenden Redakteure und weitere Mitarbeiter*innen kündigten. Das dürfte das Ende der kritischen, unabhängigen Berichterstattung der Zeitung bedeuten. Die jüngsten Vorgänge bei »Wedomosti« sind kein Einzelfall. Durch Eigentümerwechsel und Kündigung von Redakteur*innen wird auf Redaktionen Druck ausgeübt und politisch Einfluss genommen. Das russische Nachrichtenportal »The Bell« schreibt dazu: »In den letzten zehn Jahren wurden mindestens zehn große unabhängige Redaktionen zerschlagen. Mal (…) gelingt es einer Redaktion, einen Teil der Unabhängigkeit zu bewahren, indem sie auf besonders sensible Themen verzichtet. Nichtsdestoweniger beweist eine Vielzahl von Beispielen: Hat eine Zeitung ihre Unabhängigkeit verloren, ist es unmöglich, die Qualität der Redaktionsarbeit zu erhalten.« (deutsche Übersetzung von dekoder.org)

»Kommersant«, wie Wedimosti eine große Zeitung mit kritischer Berichterstattung, wurde 2006 von einem kremlnahen Investor gekauft. Im vergangenen Jahr verlor die Zeitung ihre Innenpolitik-Redaktion, als zwei Autoren wegen eines heiklen Artikels entlassen wurden und daraufhin die Redakteur*innen aus Protest geschlossen kündigten. Ein weiteres Beispiel ist das Online-Nachrichtenportal Lenta.ru. 2014 erhielt es wegen seiner Ukraine-Berichterstattung eine Abmahnung von der staatlichen Medienaufsicht und die Chefredakteurin Galina Timtschenko wurde entlassen. Tim-tschenko gründete daraufhin mit Teilen der ehemaligen Redaktion das erfolgreiche Nachrichtenportal »Meduza«, das von Lettland aus kritisch über Russland berichtet.

Kirill Serebrennikow

»Alles wird eines Tages ans Licht kommen, eines Tages werden die Archive der Geheimdienste geöffnet und wir werden erfahren, wer die Befehle erteilt hat, wer diesen Fall erfunden hat, wer ihn fabriziert hat, wer die Denunziationen geschrieben hat.« So äußerte sich Kirill Serebrennikow am 22. Juni in seinem Schlussstatement vor Gericht. Mehrere Jahre dauerte der Prozess gegen den 50-jährigen Regisseur. Ihm wird vorgeworfen, etwa 1,6 Millionen Euro an staatlichen Fördergeldern veruntreut zu haben. Serebrennikow wurde bereits im August 2017 verhaftet und unter Hausarrest gestellt. Dennoch vollendete er seinen Film »Leto« (»Sommer«) über die russische Rockmusik der 80er Jahre und inszenierte mittels Videonachrichten mehrere Theaterstücke und Opern, auch in Deutschland. Das Urteil fiel mit drei Jahren auf Bewährung und einer Geldstrafe milder aus, als erwartet. Doch wurde Serebrennikow für schuldig befunden, was seine Arbeit erschweren dürfte und ein fatales Signal an die russische Theater- und Kunstszene sendet. Einige Beobachter sprechen von einem Schauprozess, der der Einschüchterung diene.

Anlass für Serebrennikows Verurteilung ist das experimentelle Theaterprojekt »Platforma« aus den Jahren 2011 bis 2014. Die Veranstaltungen, die vom Staat subventioniert wurden, sollen laut Staatsanwaltschaft gar nicht stattgefunden haben. Dabei wurden die Inszenierungen sogar mehrere Male aufgeführt und es existieren sogar Videos davon. Die Fördergelder hatte das Projekt, das den Rahmen konservativer Theatervorstellungen sprengte, nur bekommen, weil unter Präsident Dmitri Medwedew (2008-2012) eine relativ liberale Einstellung zu Kunst vorherrschte. Mit der Rückkehr Vladimir Putins ins Präsidentenamt und dem neuen Kulturminister Wladimir Medinski war eine deutliche Wende nach rechts zu spüren. Die Vorstellung davon, was förderungswürdige Kunst ausmacht, verengte sich. Medinski war es auch, der Serebrennikow die Förderung eines geplanten Films über Tschaikowski verweigerte, da auch die Homosexualität des Komponisten thematisiert werden sollte. Serebrennikow ist ein international anerkannter Künstler, der auch am Moskauer Bolschoi-Theater inszenierte. Gleichzeitig ist er ein Außenseiter in der konservativen Theaterszene Russlands, radikaler und experimenteller, als es das Publikum gewohnt ist. Ohne solche Brüche mit dem Gewohnten kann es keine Weiterentwicklung von Kunst geben. Doch vor einer solchen hat der russische Staat offenbar Angst.

Swetlana Prokopjewa und Iwan Safronow

Im Juli wurde die Radiojournalistin Swetlana Prokopjewa der »Rechtfertigung von Terrorismus« für schuldig befunden und Iwan Safronow, der bis vor kurzem als investigativer Journalist gearbeitet hat, wurde wegen »Staatsverrat« angeklagt. Ihm drohen bis zu zwanzig Jahre Haft. Beide Fälle lösten eine Welle der Solidarität unter russischen Journalist*innen aus. Der öffentliche Druck und die internationale Aufmerksamkeit haben wahrscheinlich dazu beigetragen, dass Prokopjewa zwar schuldig gesprochen wurde, aber nicht die von der Staatsanwaltschaft geforderten sechs Jahre Straflager und vier Jahre Berufsverbot bekam, sondern eine Geldstrafe von umgerechnet etwa 6000 Euro zahlen muss. Auslöser für den Prozess gegen Prokopjewa war ein Artikel, den sie im Februar 2019 für den Sender Echo Moskwy schrieb. Es ging um den Selbstmordanschlag eines jungen Anarchisten in Archangelsk. Er hatte sich im Gebäude des Inlandsgeheimdienstes FSB in die Luft gesprengt und mehrere Mitarbeiter verletzt. Prokopjewa schrieb in ihrem Text, dass der repressive Staat selbst die Bedingungen dafür schaffe, dass Bürger sich gegen ihn wenden. In dieser Meinungsäußerung haben die russischen Strafverfolgungsbehörden ein Verbrechen gesehen. Die Verurteilung Prokopjewas, die sich auch für Alexej Nawalny engagiert, soll womöglich als abschreckendes Beispiel für andere kritische Journalist*innen dienen.

Iwan Safronow arbeitete jahrelang als investigativer Journalist bei den großen Zeitungen »Wedomosti« und »Kommersant«. Seine Themen waren oft von großer politischer Relevanz, sein Spezialgebiet ist das Militär. Nachdem »Kommersant« ihn wegen eines brisanten Artikels gekündigt hatte und bei »Wedomosti« ein neuer, kremltreuer Chefredakteur eingesetzt worden war, wendete sich Safronow im Frühjahr dieses Jahres vom Journalismus ab und wurde Berater der russischen Weltraumbehörde Roskosmos. Nach nur zwei Monaten dort wurde Safronow festgenommen. Der Vorwurf: Er habe Staatsgeheimnisse an NATO-Staaten weitergegeben. Diese Vorwürfe halten viele für absurd. Als Journalist im Presse-Pool des Kreml und für die Arbeit bei Roskosmos hat Safronow mehrfach umfangreiche Überprüfungen durch die Sicherheitsbehörden durchlaufen, bei denen es nichts zu beanstanden gab. Dass hier ein Fall konstruiert wurde, um eine kritische Stimme zum Schweigen zu bringen, ist wahrscheinlich. Genaueres wird die Öffentlichkeit vorerst nicht erfahren, da Prozesse wegen Staatsverrat hinter verschlossenen Türen stattfinden.

Yulia Tsvetkova

Die 27-jährige Yulia Tsvetkova ist LGBTIQ-Aktivistin, feministische Künstlerin und Theatermacherin. Sie kommt aus Komsomolsk am Amur, einer 260 000-Einwohner-Stadt im Osten Russlands, wo sie ein Kinder- und Jugendtheater gründete und sich für Bürgerbegegnung und Bildung sowie die Rechte von Frauen und LGBTIQ-Personen engagiert. Im März 2019 wurde ein von Tsvetkova organisiertes Kinderfestival auf Druck der Behörden abgesagt. Der Vorwurf lautete, eines der Theaterstücke gegen Genderstereotype würde Männerhass und »nichttraditionelle Familienbeziehungen« anpreisen. Tsvetkova und einige der mitwirkenden Kinder wurden von der Polizei verhört. Das sogenannte »Gesetz gegen homosexuelle Propaganda«, das seit 2013 in Russland gilt, verbietet es, unter Minderjährigen für nicht-heterosexuelle Beziehungen zu »werben«. Das schwammig formulierte Gesetz macht praktisch jede öffentliche Äußerung über Homosexualität äußerst heikel, was eine große Bedrohung für Personen des LGBTIQ-Spektrums, Aktivist*innen und queere Künstler*innen darstellt. Wegen einer Zeichnung, die unter dem Titel »Familie ist dort, wo Liebe ist« ein lesbisches und ein schwules Paar mit Kindern zeigt, musste Tsvetkova bereits eine Geldstrafe zahlen.

Im November 2019 wurde die Künstlerin verhaftet und unter Hausarrest gesetzt, weil sie angeblich illegal Pornografie verbreitete. Anlass war eine Gruppe auf der russischen Social-Media-Seite VKontakte, in der Tsvetkova dazu aufgerufen hatte, künstlerische Darstellungen von Vulven zu posten. Damit wollte sie gegen deren Tabuisierung protestieren. Derzeit wartet Tsvetkova auf ihren Prozess, in dem es auch um ihre eigenen Zeichnungen gehen soll: Stilisierte Darstellungen von nackten oder halbnackten Frauen mit kurzen Texten wie »Frauen haben Haare am Körper – das ist normal« oder »Frauen haben Körperfett – das ist normal«. Die bodypositiven Zeichnungen sind witzig und treffend und wirken weder sonderlich provozierend noch ungewöhnlich.

Die Menschenrechtsorganisation Memorial stuft Tsvetkova als politische Gefangene ein. Sollte sie den Prozess verlieren, drohen ihr bis zu sechs Jahre Haft. In einem Interview mit dem Magazin »Siegessäule« macht Tsvetkova sich wenig Hoffnung: »Weniger als ein Prozent der Gerichtsentscheidungen gehen in solchen Fällen positiv für die Angeklagten aus. Die rechtliche Grundlage in Russland, was überhaupt unter Pornografie fällt, ist sehr vage. Die Polizei kann vieles behaupten und sogenannte Expert*innen finden, die bestätigen, dass es sich hierbei um Pornografie handelt.« Alles deutet darauf hin, dass in Tsvetkovas Fall die bestehenden gesetzlichen Möglichkeiten ausgenutzt werden, um ein Signal an andere feministische Künstler*innen und Aktivist*innen zu senden: Ihr könnt sehr schnell ebenfalls zur Zielscheibe werden.