nd-aktuell.de / 05.09.2020 / Politik / Seite 18

Aufrecht zwischen den Stühlen

Noch zu den Wahlen des 5. März 1933 hängte Georg Benjamin eine große rote Fahne aus dem Fenster seiner Arztpraxis im Wedding. Nur wenig später wurde er erstmals verhaftet

Noch nicht lange ist es her, dass Georg Benjamin ein wenig aus dem Schatten seines charismatischen Bruders heraustrat. Doch noch immer ist die Geschichte des revolutionären Sozialisten in der Weimarer Republik, der dann den Nationalsozialisten so entschieden widerstanden hatte, weit weniger bekannt als die Biografie des drei Jahre älteren Walter Benjamin. Dabei ist Georg Benjamins Lebensgeschichte, die am 26. August 1942 nach langer Haft im Zuchthaus Brandenburg-Görden mit dem Tod im Stacheldraht des Konzentrationslagers Mauthausen endete, auf ihre Art nicht minder beeindruckend und lehrreich als die des posthum weltberühmten Philosophen, Soziologen und Kulturkritikers.

Georg Benjamins Leben ist eine Geschichte von politischen Zweifeln und Standhaftigkeit, von Bürgerlichkeit und sozialer Empathie - und auch von deutscher Erinnerungskultur im 20. Jahrhundert. Kurz nach der Novemberrevolution hatte sich der am 10. September 1895 in Berlin geborene Mediziner und Politiker dazu entschieden, sich im Wedding niederzulassen. Und die nächsten beiden Jahrzehnte widmete er einem eindrucksvollen politischen und beruflichen Einsatz für die Verbesserung der Lebensbedingungen in dem sprichwörtlich »roten« Berliner Arbeiterbezirk.

Sein beruflicher Weg führte in einer ersten Etappe über innovative sozialmedizinische Studien, die Mitarbeit im Verein sozialistischer Ärzte und die Gründung des Proletarischen Gesundheitsdienstes zu einer beamteten Tätigkeit als Weddinger Stadtschularzt. Diese Stelle verlor er 1931 durch Beschluss der Bezirksamtsmehrheit von SPD und Bürgerblock. Nach der Entlassung eröffnete er eine hausärztliche Praxis am Gesundbrunnen. Im April 1933 wurde er erstmals verhaftet, im Dezember dieses Jahres kam er frei, wurde aber mit Berufsverbot belegt. Im Mai 1936 begann schließlich seine Inhaftierung in Zuchthaus und Lagern, die er nie wieder verlassen sollte.

Dem entsprach seine politische Entwicklung. Diese führte Benjamin nach einer kurzlebigen, generationstypischen Kriegsbegeisterung zu Beginn des Ersten Weltkriegs zur entschlossenen Kriegsgegnerschaft und einer allmählichen Annäherung an die revolutionäre Arbeiterbewegung - über die Stationen der bürgerlichen Sozialen Arbeitsgemeinschaft zur SPD und USPD und schließlich 1922 zur KPD. In der jungen Partei bezog er eine Art Mittelposition zwischen den »rechten« Strömungen und den bald abgedrängten Ultralinken um Ruth Fischer und Werner Scholem. Als Kommunalpolitiker in der Bezirksverordnetenversammlung des Wedding vertrat er Ende der 1920er Jahre aber die verhängnisvolle Sozialfaschismusthese der KPD der Stalin-Ära.

In Georg Benjamins politischer Haltung stand die feste Bindung an die KPD in der Phase ihrer autoritären Versteinerung einer Offenheit für konkrete Verbesserungen im Sinne der Arbeiterschaft seiner Umgebung gegenüber. Hervorzuheben ist sein Einsatz für die Abschaffung des frauenfeindlichen § 218 und für Reformen im antiquierten Schulsystem. Doch bis in die Zuchthausjahre hinein verhinderte seine Parteitreue jeden öffentlich geäußerten Vorbehalt gegenüber der stalinistischen Linie.

Leises Hadern mit »Sophie«

Berührend dokumentiert ist dieser Konflikt im noch immer nicht ganz publizierten Briefwechsel mit seiner Ehefrau Hilde aus dem Zuchthaus. Als diese - die später als DDR-Justizministerin das Frauen- und Familienrecht in einer Weise progressiv gestaltete, die wir erst allmählich einholen, die aber auch an einer stalinistischen Grundordnung des Rechtswesens mitwirkte - nach dem Pakt zwischen Nazideutschland und der UdSSR Zweifel an der Moskauer Politik äußerte, widersprach er ihr zunächst: Für ein Urteil fehle die »hinreichende Kenntnis der Verhältnisse und Vorgänge«. Im nächsten Brief kam er Hildes Zweifeln dann aber entgegen: »Ich habe keine Illusionen über Sophies Einstellung.« Mit »Sophie« war in den zensierten Briefen die Sowjetunion gemeint. Gewissermaßen konnte nur Hitlers Überfall auf diese den Zwiespalt zwischen Parteilinie und privaten Vorbehalten heilen.

Sein Parteileben hatte Benjamin auch nach der Machtübergabe an die Nazis unerschrocken fortgesetzt, unter anderem als Mitarbeiter der illegalen Leitung der KPD in Berlin-Brandenburg. Noch zu den Wahlen des 5. März 1933 hängte er eine große rote Fahne aus dem Fenster seiner Praxis. Und kein Gefängnis- oder Lageraufenthalte konnte ihn brechen: Noch als die sechs Jahre vorbei waren, zu denen ihn das Regime 1936 unter dem Allzweckvorwurf der »Vorbereitung des Hochverrats« verurteilt hatte, hielt die Zuchthausverwaltung in Brandenburg fest, die Haft habe den »Juden in keiner Weise beeinflusst«.

Diese politische Konsequenz steht einer Reihe von Brüchen und Widersprüchen in Georg Benjamins privater und öffentlicher Existenz gegenüber. Seine Entwicklung folgte keineswegs einer Zwangsläufigkeit, die seiner bürgerlichen Herkunft entsprochen hätte. Diese Herkunft hinterließ bei Georg und Hilde Benjamin in Habitus und Alltagsleben ihre Spuren. Wie andere mit der KPD sympathisierende Intellektuelle, denen die Partei nach J.R. Bechers bekanntem Spruch keine »Triumphpforte« errichtete, balancierten sie ihr privates wie politisches Verhalten immer wieder sorgsam aus. Die Parteidisziplin ermöglichten sie sich durch unbedingten Abstand zu den einander bekämpfenden Parteiflügeln und auch zu deren theoretischen Auseinandersetzungen.

Stattdessen vertieften sich die Benjamins in eine Politik größter Nähe zur Berufspraxis. Während sie im sozialen Verkehr eine Art intellektuelle Selbstbeschränkung im Umgang mit proletarischen Genossen übten, standen sie diesen hilfreich zur Seite. Georg, der beliebte Arzt, nahm nicht nur beispielsweise gebührenfreie Schwangerschaftsabbrüche für bedürftige Arbeiterfrauen vor, sondern unterstützte Parteigenossen auch finanziell. Doch bei all seiner Großzügigkeit lebte er nie in »Solidaritätsaskese«. Zwar wurde Georg Benjamin auch wegen seiner Tabak- und Alkoholabstinenz in seinem privaten Umfeld liebevoll als »heiliger Georg« tituliert, doch pflegte er durchaus seine persönlichen Vorlieben: Wanderungen in der Natur, Reisen in den Süden, Motorräder und Schach. Weit vom frei flottierenden Hedonismus seines Bruders Walter entfernt, verschmähte er doch nicht das beträchtliche elterliche Erbe. Solange es die politischen Umstände erlaubten, nutzte er diese Mittel für ein sorgenfreies Leben mit Ehefrau Hilde und dem Sohn Michael Benjamin.

Wie hätte sich ein dem Naziterror entgangener Georg Benjamin nach dem Krieg verortet? Hätte es für ihn eine Nische im Gesundheitssystem des DDR-Sozialismus gegeben? Oder wäre er in anderweitige Verstrickungen geraten, in der Art seiner Frau Hilde? Dann hätte ihn seine Ermordung am 26. August 1942 in seiner historischen Identität als mutiger Kämpfer im antifaschistischen Widerstand, als Fürsprecher und Helfer für benachteiligte Kinder, für Frauen in Not und andere Hilfsbedürftige bewahrt.

Zwiespalt im Nachruhm

Solche Spekulationen überlassen Historiker gern der Belletristik. Doch setzten sich die Kontraste und Widersprüche, in denen Georg Benjamin lebte, in seinem Nachruhm fort. Einen schlichten grauen Betonblock mit seinem Namen platzierte die Witwe 1946 am Grabmal der Familie Emil Benjamin auf dem Stahnsdorfer Friedhof. Nach dem Tod seines Sohnes Michael im Jahr 2000 steht sein Name auch auf dem Grabstein seiner eigenen Familie auf der Gedenkstätte der Sozialisten in Berlin-Friedrichsfelde - eine nachholende Integration Georg Benjamins in die Gedächtniskultur der DDR. Genau diese Identifikation mit dem DDR-Sozialismus findet sich zunächst auch auf westlicher Seite des Kalten Krieges. Sie führte bestenfalls zum Übergehen seiner Person, schlimmstenfalls zu seiner Gleichsetzung mit der DDR, mit seiner Witwe, der »Roten Hilde«. In der Bundesrepublik, die zunächst das Erbe des nazistischen Antikommunismus antrat, wurde die Erinnerung an den kommunistischen Widerstand ohnehin unterdrückt.

In einer paradoxen Wendung in Georg Benjamins Nachruhm kurz nach der Wende von 1989 verkehrten sich die alten Fronten: In der untergegangenen DDR wurden viele der an ihn erinnernden Gedenkorte umbenannt, oft in anachronistischer Sippenhaft für seine Frau - oder im Gegenzug zu einem als »verordnet« empfundenen Antifaschismus. Dagegen setzte in den alten Bundesländern eine Neubewertung ein, die auch den kommunistischen Widerstand gegen das Naziregime zur Kenntnis nahm. In ihren Gedenkzeichen fand auch Georg Benjamin Einlass in die historische Erinnerung. In seinem Berliner Wirkungsumfeld sind er und seine Geschwister am Ende gegenwärtig: Walter Benjamin gibt einem Platz in Charlottenburg den Namen, die lange übersehene Sozialpädagogin Dora Benjamin einem kleinen Park in Friedrichshain - und Georg Benjamin einer Straße im Pankower Ortsteil Buch.