nd-aktuell.de / 05.09.2020 / Politik / Seite 4

Vom Schulstreik zum Arbeitskampf

Verdi fordert zusammen mit Fridays for Future und BUND eine Verkehrswende.

Simon Poelchau

Im Jahr 1990 bliesen Autos, Lkws, Busse, Flugzuge, Motorräder und & Co. hierzulande rund 164 Millionen Tonnen Treibhausgase in die Luft. 2019 war es nur eine Tonne weniger. Wie man in zehn Jahren zum Erreichen der selbstgesteckten Klimaschutzziele auf eine Reduktion auf 95 Millionen Tonnen CO2-Emissionen im Verkehrssektor kommen will, ist angesichts dieser Zahlen fraglich. Dass die Bundesregierung für kommenden Dienstag zu einem neuen Autogipfel lädt, ist für Christine Behle deshalb ein »falsches Signal«. »Wir brauchen keine Antriebs- sondern eine komplette Verkehrswende«, sagte die stellvertretende Vorsitzende von Verdi am Freitag. Sie setzt dabei im laufenden Tarifkonflikt für die Beschäftigten im öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) auf eine Allianz mit Klimaschützern.

Zusammen mit der Klimabewegung Fridays for Future, der Umweltorganisation BUND und dem ökologischen Verkehrsclub VCD fordert sie einen ÖPNV-Gipfel für eine konsequente Verkehrswende. Denn zur Erreichung der Klimaziele sei unter anderem »eine schnelle und spürbare Reduktion des Pkw-Verkehrs notwendig«, heißt es in einem offenen Brief der Organisationen an Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer (CSU). Dafür müsse gewährleistet werden, dass das Angebot im öffentlichen Verkehr und die Infrastruktur für Fahrrad- und Fußverkehr deutlich verbessert werden können und damit die Attraktivität im Verhältnis zum motorisierten Individualverkehr weiter steigt.

Die Forderung nach einer Verkehrswende ist nicht neu. Schon bei der Einführung der Abwrackprämie während der Krise 2008/9 wurde kritisiert, dass dies ökologisch unsinnig war und es stattdessen eine Wende weg vom motorisierten Individualverkehr brauche. Das Aufkommen von Fridays for Future und die zunehmende Erderwärmung hat diese Forderung jedoch verbreitert.

Den Investitionsbedarf für eine solche Verkehrswende in Infrastruktur, neue Fahrzeuge und Personal beziffert das Bündnis nun auf zwölf Milliarden Euro jährlich bis 2030. Dies ist eine Summe, mit der die Kommunen, in deren Hand der öffentliche Nahverkehr meist liegt, überfordert wären. »Bund und Länder müssen endlich Verantwortung übernehmen. Dafür brauchen wir nach mehreren Autogipfeln jetzt einen ÖPNV-Gipfel«, sagte deshalb Behle mit Blick auf die nächste Verkehrsministerkonferenz am 14. Oktober.

Dass Verdi eine Allianz mit Klimaschützern eingeht, ist bemerkenswert, kommt aber nicht von ungefähr. Im Gegensatz zur IG Metall vertritt die Dienstleistungsgewerkschaft nicht die Beschäftigten in der Autobranche, sondern jene im öffentlichen Nahverkehr. Es ist ein Bereich, in dem in den letzten Jahren massiv gespart wurde. Im Vergleich zur Jahrtausendwende fehlen heute 15 000 Vollzeitbeschäftigte im öffentlichen Nahverkehr. Wer dort arbeitet, »tut dies am Rande der Belastungsgrenze«, so Behle. Krankenstände über zehn Prozent sind die Regel, die Verdienste nicht gerade üppig. So erhält ein Busfahrer in Brandenburg im Durchschnitt 2167 Euro im Monat. Hinzu kommt, dass in den nächsten zehn Jahren die Hälfte der Angestellten in Rente geht. Mehr Geld für den ÖPNV im Zeichen des Klimaschutzes wäre also auch im Sinne der Beschäftigten.

Ende Juni kündigte die Gewerkschaft in allen 16 Bundesländern die Landestarife, um parallel verhandeln zu können. Bereits im Juli gab sie für die anstehenden Arbeitskämpfe eine Zusammenarbeit mit Fridays For Future bekannt. Die Bewegung will dabei mit Aktionen die Forderungen der Beschäftigten unterstützen. Sie bestreiken also nicht mehr nur fürs Klima die Schule, sondern will sich auch in einen Arbeitskampf einmischen. »Die gewaltige Herausforderung, die Klimakrise zu stoppen, schaffen wir nur, wenn wir alle Menschen mitnehmen und sowohl soziale als auch ökologische Ungerechtigkeiten hinter uns lassen«, sagte Fridays-for-Future-Sprecherin Helena Marschall am Freitag.