Reformversuche zwischen Trümmern

Viele Menschen im Libanon fordern tief greifende Veränderungen - Frankreich will sie erpressen

  • Karin Leukefeld, Beirut
  • Lesedauer: 3 Min.

»Lange nicht gesehen, wie geht es Ihnen?« Diese Frage löst bei Sherif S. ein ungläubiges Stirnrunzeln aus. Sein Gesicht ist unter einer Schutzmaske verschwunden, aber als er sich hinter seinen großen Schreibtisch zurückzieht und die Maske abnimmt, sind die tiefen Falten um Augen und Mundwinkel zu sehen, die sich in das Gesicht des knapp Vierzigjährigen eingegraben haben. »Machen Sie Scherze? Schlecht geht es mir«, bricht es aus ihm hervor. »Mein Haus ist zerstört, Zehntausende sind obdachlos, was erwarten Sie für eine Antwort!«

Erst vor wenigen Jahren hat Sherif S. jenes Hotel übernommen, das sein Vater Anfang der 1960er Jahre in Hamra gegründet hatte, einem westlichen Stadtteil von Beirut. Nach dem Tod des Vaters hatte die Mutter das Haus zunächst geleitet, bis Sherif es mit seiner Frau übernahm. Als Wohnort für sich und seine Familie hat der Architekt mit Hingabe eines der alten Häuser im Stadtteil Gemmayzeh restauriert, in unmittelbarer Nähe des Hafens von Beirut. Als dort am 4. August etwa 3000 Tonnen Ammoniumnitrat explodierten, waren Sherif S. und seine Familie in einem der Dörfer hoch oben in den Bergen nordöstlich von Beirut. Sein liebevoll restauriertes Haus in Gemmayzeh hielt der Druckwelle nicht stand, die Fenster zersprangen, Wände und Zwischendecken wurden eingedrückt. Im Hotel in Hamra zersprangen auf der Straßenseite sämtliche Fenster und die Glasfront im Eingangsbereich fiel in Millionen Einzelteilen wie ein Scherbenregen auf die Straße. Wie durch ein Wunder blieben Gäste und Personal unverletzt, doch mit einem schweren Schock zurück. »Die Wirtschaftskrise, dann Corona, und nun das«, fährt Sherif mit erhobener Stimme fort. Er sei über Jahre hinweg immer ruhig und politisch auf Ausgleich bedacht gewesen. »Damit ist Schluss, alle tragen Verantwortung für das, was hier geschehen ist. Niemand soll sich rausreden, und selbst wenn ich Freunde verliere, ich spreche niemanden von seiner Schuld frei. Das hier geht zu weit!«

Auf die Frage, ob er, wie viele andere, den Libanon jetzt verlassen wolle, kommt die Antwort messerscharf, noch bevor die Frage zu Ende gestellt ist: »Nein, niemals! Nicht ich, sie müssen gehen! Sie haben mein Haus zerstört, sie haben hier nichts mehr verloren.« Sherif ist nicht allein: Mehr als 300 000 Menschen haben am 4. August ihre Wohnungen und Häuser in den Stadtvierteln Mar Mikhail, Gemmayzeh und Karantina verloren. Sie zählen zu den ältesten Vierteln von Beirut und gehen so sehr ineinander über, dass Fremde sie kaum auseinanderhalten können. Keiner der früheren Minister oder politisch Verantwortlichen hat sich in diesen Vierteln bis heute blicken lassen, um die Zerstörung zu sehen, die Leidensgeschichten der Bevölkerung zu hören und sich - wenigstens anstandshalber - zu entschuldigen. Der erst vor wenigen Tagen vom Parlament als neuer Ministerpräsident bestätigte Mustafa Adib ist zwar gekommen, doch nicht nur die Protestbewegung, auch die einfache Bevölkerung bringt ihm kaum Vertrauen entgegen.

Bis Mitte September soll er - so die Forderung des französischen Präsidenten Emmanuel Macron - eine Reformregierung bilden, sonst werde es aus Europa keine Unterstützung für den Libanon geben, drohte Macron. Gemeint ist die Einwilligung in ein Programm des Internationalen Währungsfonds, der die Privatisierung der lukrativen Unternehmen und Ressourcen des Libanon einleiten soll. Im Gegenzug könnte es Investitionen aus Europa und den Golfstaaten geben. Diese setzten allerdings auch eine Erneuerung des maroden Bankensystems im Zedernstaat voraus.

Mustafa Adib hat wie sein Vorgänger Hassan Diab eine Regierung von Experten in Aussicht gestellt. Selbst wenn Macron, das Parlament und der amtierende Präsident Michel Aoun einer solchen Regierung zustimmen sollten, ist unklar, ob es gelingen wird, den Libanon wieder zu stabilisieren. Diverse Oppositionsgruppen haben die Ernennung von Adib bereits grundsätzlich abgelehnt und fordern den »Sturz des Regimes«.

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