Erzählungen, die bleiben, wenn sonst nichts mehr da ist

Ronya Othmann gibt der Lebensrealität von Jesid*innen Raum. Ein Gespräch über das Erinnern

  • Sophia Sailer
  • Lesedauer: 5 Min.

Ihr Romandebüt heißt »Die Sommer«. Thematisch heruntergebrochen, wovon handelt es?

Was im Buch passiert, also seine Handlung, das ist nur eine Ebene. Darüber hinaus dreht es sich aber vor allem um das Erinnern an etwas, das ausgelöscht wurde oder von Auslöschung bedroht ist. Gleichzeitig geht es aber auch genauso um Widerstand - den Widerstand im Erinnern. Im Falle von »Die Sommer« passiert das eben vor allem durch die Erzählungen des Vaters. Erzählungen, die bleiben, wenn da sonst nichts mehr ist.

Dieses Spannungsfeld im Roman ist sehr krass: Einerseits ist Leyla eine glückliche Studentin »in ihren besten Jahren«, andererseits schweben große Teile ihrer Familie in Lebensgefahr. Irgendwann kommt Leyla an den Punkt, wo sie sich fragt: Was kann ich tun? Nun frage ich Sie: Was können wir tun - gerade als Gesellschaft, die oft noch viel zu wenig von diesem Thema berührt wird?

Ronya Othmann
Von Sonnenblumenkernen, vom Queersein, vom Krieg: In ihrem Romandebüt »Die Sommer« erzählt Ronya Othmann viele Geschichten. Vielleicht sogar ein bisschen ihre eigene. 1993 in München geboren, studiert die Schriftstellerin nun am Literaturinstitut Leipzig. Gemeinsam mit Cemile Sahin schreibt sie für die Taz eine Kolumne namens »OrientExpress« über Nahost-Politik. Mit der Autorin sprach Sophia Sailer über das Festhalten, Sprechen-Können und das Spannungsfeld zwischen Fiktion und Realität.

Oft sind die Menschen von der Komplexität und Vielschichtigkeit der Konflikte einfach total überfordert: Jesidische Menschen sind über verschiedene Länder verteilt und auch keine homogene Gruppe, sondern natürlich untereinander sehr divers. Und dann kommen da noch der syrische Präsident Baschar al-Assad , die IS-Kämpfer, die Türkei hinzu - nur um ein paar zu nennen. Alles ist sehr komplex, aber so sieht eben die Lebensrealität von Jesid*innen nun einmal aus. Es gibt zum Beispiel Fälle, in denen eine Person in einem türkischen Gefängnis gefoltert wurde, nach Syrien geflohen ist, dort erneut festgenommen wurde, im Anschluss wieder geflohen ist und im Libanon umgebracht wurde. Diese Biografien gibt es. Diese politische Komplexität zu verstehen und zu begreifen, wäre das eine.

Andererseits sollte man diese Geschehnisse auch nicht als etwas abtun, das »ganz weit weg« ist. Es passiert schließlich in unserer Welt. Der Genozid an Jesid*innen ist genauso Teil deutscher Geschichte, weil es beispielsweise Täter von hier gibt, die sich von Deutschland aus dem IS angeschlossen und sich am Genozid beteiligt haben. Außerdem leben jesidische Überlebende in Deutschland. Dazu kommen dann auch noch politische Verstrickungen Deutschlands, beispielsweise mit der Türkei. Wenn dorthin Waffen geliefert werden, die dann in Nordsyrien gegen Kurd*innen eingesetzt werden - dann geht uns das was an und da darf man sich nicht raushalten. Dafür muss ein Bewusstsein geschaffen werden. Wir sollten uns genauso empören, wenn Tausende jesidische Frauen vom IS verschleppt werden, wie wenn es deutsche Frauen wären.

Woher kommt es, dass Themen für viele in Deutschland »ganz weit weg« erscheinen, obwohl sie mit den Konflikten rund um Kurdistan doch phasenweise tagtäglich in den deutschsprachigen Medien konfrontiert wurden?

Das hat mit Orientalismus zu tun. Diese Region wird noch immer als fremd wahrgenommen. Wenn dort etwas passiert, beispielsweise ein Anschlag, wird darüber berichtet - was natürlich wichtig ist. Doch Zusammenhänge und Hintergründe vermitteln sich so nicht. Wer kämpft da eigentlich warum gegen wen? Der Krieg, die Verbrechen, die dort passieren, werden hier als »Naturgewalt« hingenommen. Das Problem liegt aber auch in den Staaten an sich. Kurdistan erstreckt sich über vier Staaten. In all diesen vier Ländern wurden und werden Kurd*innen unterdrückt, verfolgt, diskriminiert. Wie soll jemand, der sich in der Türkei nicht als Kurde bezeichnen darf, in Syrien als »Ausländer« ausgebürgert wurde, für sich sprechen?

Nun sind wir in der politischen Realität angekommen, über die Sie nicht nur literarisch, sondern auch journalistisch schreiben. Inwiefern hat das journalistische Tagesgeschäft Ihren kreativen Schreibprozess beeinflusst?

Dieses Spannungsfeld zwischen Fiktion und Realität beschäftigt mich schon länger. Ich bin keine Person, die sich groß Sachen ausdenkt, deshalb ist die Geschichte wirklich sehr nah an der Realität. Obwohl die Figur Leyla auch Parallelen zu mir hat, ist sie natürlich schon konstruiert. Ich wollte beispielsweise eine Figur haben, die passiv und eher eine Beobachterin ist. Ich habe mir vor allem die Frage gestellt, was es mit so einem Menschen macht, in solch eine Geschichte und Familie hineingeboren zu werden. Zu welchem Schluss kommt so jemand? Das war dann natürlich auch eine Möglichkeit, ein bisschen Abstand zu mir selbst zu schaffen.

Ist »Die Sommer« autobiografisch?

Wenn ich ehrlich bin: vieles ist real - das Dorf gibt es zum Beispiel. Vieles gibt es aber auch nicht. Vielleicht kann man Autofiktion dazu sagen. Es ging mir aber nie um die Darstellung meines eigenen Lebens, sondern darum zu zeigen, was all diese politischen Brüche mit einem Menschen machen.

Was war zuerst da - der Wunsch, das Thema zu bearbeiten, oder der Drang zu schreiben?

Ich dachte ursprünglich nicht, dass ich einen Roman aus meinen angesammelten Texten machen würde. Sie kamen mir eher fragmentarisch: vor der Figur kam mir das Dorf wie eine ausschnittsartige Bestandsaufnahme. Was zeitlich das Ende des Romans ist, war der Anfang meines Schreibens, etwa 2014. Mir war zu diesem Zeitpunkt bewusst: Was die Welt kannte, besteht so nicht mehr. Dadurch, dass Dinge wie der Genozid an Jesid*innen, Vertreibungen und politische Brüche passiert sind. Das Schreiben war also ein Akt des Festhaltens.

Ronya Othmann: Die Sommer. Hanser, 288 S., geb., 22 €.

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