nd-aktuell.de / 11.09.2020 / Sport / Seite 16

Länderkampf in den Alpen

Um zwei Slowenen zu bezwingen, müssen Kolumbiens Radprofis bei der Tour de France zusammenarbeiten

Tom Mustroph

Es hat lange gedauert. Über Jahre hinweg bestimmten Radprofis aus Kolumbien das Geschehen der Tour de France mit, doch am Ende bissen sie sich immer die Zähne an einem Briten aus. Zuerst an Chris Froome, dann war dessen Ersatz Geraint Thomas zu stark. Als im Jahr 2019 mit Egan Bernal doch endlich mal ein Kolumbianer die Tour gewann, geschah dies auch in Diensten des Dominanzteams Sky, heute Ineos, der letzten Dekade. Es blieb also ein Beigeschmack, dass Bernal nur gewonnen hatte, weil ihn Thomas hatte gewähren lassen.

In diesem Jahr sollte es anders werden. Zehn Fahrer stark ist die kolumbianische Kletterfraktion mittlerweile. Die meisten von ihnen gingen als Kapitäne ihrer jeweiligen Teams ins Rennen. »Ich würde es schön finden, wenn wir zehn Kolumbianer am Ende in Paris die ersten zehn Plätze im Gesamtklassement einnehmen würden«, sagte halb scherzend, halb ernst Esteban Chaves beim Tourstart in Nizza dem »nd«. Chaves ist neben dem Briten Adam Yates Co-Kapitän des Rennstalls Mitchelton-Scott, hat mittlerweile allerdings mehr als zehn Minuten Rückstand auf den führenden Slowenen Primoz Roglic angehäuft. Auch einige seiner Landsleute hat es gerupft. Der mit viel Vorschusslorbeeren gestartete Sieger der Vorbereitungsrundfahrt Criterium Dauphiné, Dani Martinez, liegt nach Sturzverletzungen schon fast eine Stunde zurück.

Die Leistungsdichte der Andenbewohner ist aber so groß, dass immer noch ein Quartett unter den besten Zehn rangiert: Miguel Angel Lopez (als 9. liegt er 1:15 Minuten zurück), Rigoberto Uran (6., 32 Sekunden), Nairo Quintana (5., zeitgleich mit Uran) und Egan Bernal (2., 21 Sekunden hinter Roglic). »Alle drei, Egan, Nairo und Rigo, können aufs Podium kommen und sogar die Tour de France gewinnen«, blickte mit Lopez der am schlechtesten platzierte auf die Situation. Sich selbst hält der Kapitän des Teams Astana zumindest noch für gut genug, um bis Paris noch einen Podiumsplatz zu erreichen.

Für eine komplett kolumbianische Besetzung auf dem Siegerpodest müssten aber zunächst die beiden Slowenen Roglic und Tadej Pogacar geschlagen werden. Wie dies geschehen könnte, deutete zuletzt Nairo Quintana an, mit Siegen bei Vuelta und Giro der am häufigsten Dekorierte des Quartetts. »Wir müssen eine Allianz bilden«, forderte der 30-Jährige, der 2013 und 2015 Gesamtzweiter hinter Froome geworden war. Quintana leitete das aus dem von ihm beobachteten Nichtangriffspakt der beiden Slowenen auf der ersten Pyrenäenetappe ab. »Wir waren am Col de Peyresourde zu dritt vorn. Ich habe Führungsarbeit gemacht, Pogacar und Roglic haben mich aber nicht abgelöst«, klagte er. Die anderen fuhren damals wieder heran. Und Pogacar, derzeit anscheinend der Formstärkste am Berg, zog später allein davon. Roglic ließ den Landsmann gewähren. Den Kolumbianern fehlte die Kraft gegenzuhalten.

Das Allianzangebot Quintanas erfuhr gemischte Reaktionen. Miguel Angel Lopez meinte nur: »Jeder von uns fährt doch für ein anderes Team mit eigenen Zielen. Da wird eine solche Zusammenarbeit schwer.« Für einen späteren Zeitpunkt mochte er das aber nicht ausschließen, etwa dann, wenn die Träume des einen ausgeträumt, ein Landsmann aber noch unterstützt werden könnte. »Wir sind doch alle Kolumbianer, und wenn einer von uns gewinnt, ist es gut«, meinte er.

Ähnlich Patriotisches war von Vorjahressieger Egan Bernal zu vernehmen. »Wenn weder ich noch mein Team die Tour gewinnen können, würde mich natürlich der Sieg eines anderen Kolumbianers freuen«, zitierte ihn die kolumbianische Tageszeitung »El Tiempo«. Ein sofortiges Zusammenspannen mit Quintana scheint dennoch nicht nach seinem Geschmack. Es sei schon komisch, dass der Allianzvorschlag ausgerechnet von ihm gekommen sei, denn Quintana selbst arbeite in Fluchtgruppen kaum mit anderen zusammen, sinnierte Bernal. Von Rigoberto Uran war dazu noch gar nichts zu hören. Der Altmeister trägt seinem einst engsten Kumpel Quintana immer noch nach, dass der ihn 2014 mit einer umstrittenen Attacke um den Sieg beim Giro d’Italia gebracht hatte.

Wenn es ab diesem Freitag ins Zentralmassiv und die Alpen geht, dürften all diese Eigeninteressen einer Allianz im Wege stehen. In dem Fall würde am Ende gar kein Kolumbianer lachen, dafür aber zwei Slowenen.